75 Jahre NN: Auf Besuch bei der jüngsten Volontärin

26.8.2020, 18:37 Uhr
75 Jahre NN: Auf Besuch bei der jüngsten Volontärin

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Sie wartet an der Haltestelle, die der Bus aus Neumarkt ansteuert: "Berching, Erlöserkirche". In der Tat ist es eine Erlösung, dem endlos über die Käffer kurvenden Wagen zu entkommen. Lena Wölki lächelt meinen Übelkeitsanflug weg, zeigt nach oben. Sie wohnt am Berg und geht voran. Zeit für eine erste Musterung: Jeans, rosa Bluse mit Rüschen an den Handgelenken, vernünftige Schuhe. Eine harmlose Kluft, unter der sich aber ein präzise arbeitendes Willenskraftwerk verbirgt.


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Wer mit ihr ein paar Stunden zusammensitzt und durch ihre Heimatstadt Berching spaziert, kommt an dieser Erkenntnis nicht vorbei. Es täuschen die Rüschen, es täuscht das Mädchenhafte der 1,65 Meter großen NN-Nachwuchsjournalistin. "Ich kann manchmal furchtbar herrisch sein", seufzt Lena Wölki und ist doch unüberhörbar einverstanden mit sich.

Was ist das Besondere an dieser jungen Frau, die seit vergangenem Jahr eine von sieben Volontären des Verlags ist und in wechselnden Ressorts zur Redakteurin ausgebildet wird? Sie sei wieder mal die Jüngste, wie so oft, sagt sie und rollt hinter der großen braunen Brille ein bisschen mit den Augen.

Außerdem steigt sie ohne einschlägige Praktika und abgeschlossenes Studium in den Job ein. Das ist ungewöhnlich und eigentlich gegen die Regeln, die für den journalistischen Nachwuchs seit Jahrzehnten gelten. Doch der überraschende Rollenwechsel ist ihr vertraut, dazu später mehr.

Lena Wölki, die sich von der durchschnittlichen Realschülerin über die Fachoberschule zum Abi durchgebissen hat, kommt stattdessen aus der Praxis. 2018 hat sie einen Einser-Abschluss als Medienkauffrau hingelegt. Ihre Lehrzeit im Verlag Nürnberger Presse, die Zeit als Assistentin am crossmedialen Newsdesk, eine Stippvisite in der Nürnberger Lokalredaktion und vor allem die Ermutigung durch Kolleginnen, all das habe ihr große Lust aufs Zeitungmachen gemacht.

Wir sind oben angekommen. Der Nachbarhund bellt sich heiser, während die 23-Jährige drinnen in ihrem aufgeräumten Berchinger Puppenstuben-Häuschen Mineralwasser serviert. Hier lebt sie seit Kurzem mit ihrem Freund zusammen, seit zwei Jahren sind die beiden ein Paar. Sie kennen sich schon lange, wie das in Berching eben so ist.


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Sich eher spät abzunabeln von den Eltern, sei ganz normal für junge Leute am Land. Wozu die Eile? Die Großstadt hat Lena bisher nicht gelockt. Stressig, dreckig, anonym sei es dort. Sie schüttelt abwehrend den Kopf, fährt lieber jeden Tag 60 Kilometer zu ihrem Arbeitsplatz und zurück.

Man müsse doch mal raus in die große Welt, fort aus dem engen Oberpfälzer Kaff, wo jeder jeden kennt, sich anderswo den Wind um die Nase wehen lassen. Natürlich wird auch Wölki mit solchen Ratschlägen bombardiert – und ignoriert sie vorerst elegant. "Vielleicht später mal. Mein Leben ist ja noch nicht vorbei", sagt sie und lacht los. Erst 23, da kann noch viel passieren. Noch gibt es Wichtiges, das sie in der Idylle am Main-Donau-Kanal festhält.

Draußen, im leicht abschüssigen Garten hinterm Haus, gackern vier neue Mitbewohnerinnen, die gerade erst eingezogen sind. Buschhühner hat sie sich ins Haus geholt, und Lena hat, das ist typisch für sie, auch sehr klare Erwartungen an die Neuzugänge. 180 Eier könne jedes Huhn im Jahr legen, hat sie in der Fachliteratur gelesen. Die Latte liegt also hoch, aber das Federvieh wird parieren, so wie die Protagonisten ihrer Theaterleidenschaft das tun.

75 Jahre NN: Auf Besuch bei der jüngsten Volontärin

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Dass sie "herrisch" sein könne, bezieht sie vor allem auf ihren Zweitberuf, dem sie enorm viel Energie und Leidenschaft widmet. Am ambitionierten Amateurtheater der Berchinger Kulturfabrik hat sie vor einem Jahr die Rolle der Regisseurin übernommen. Da sei sie "manchmal ultra-direkt" zu den Schauspielkollegen; sie hasse sich dann hinterher oft für ihre unverblümte Kritik. Man muss ihr das nicht glauben. Diese Frau weiß, was sie will, darüber können auch zartrosa Rüschenblusen nicht hinwegtäuschen.

Zwei Jahre lang hat sie regelmäßig Wochenendseminare belegt, sich von Profis ausbilden lassen fürs Regiefach. Genauso ernsthaft übrigens, wie sie zuvor die Schauspielerei erlernt und betrieben hat. Alles begann, als sie eine moppelige 14-Jährige war, die kaum den Mund aufbrachte und anderen nicht in die Augen schauen konnte.

Fast schon schonungslos beschreibt sie die verklemmte jüngere Lena von einst. Würden nicht ein paar Fotos aus dieser Zeit unter den Magneten am Kühlschrank klemmen, man könnte sich die geschilderte Metamorphose nur schwer vorstellen.

Nicht nur 20 Kilo sind runter, Low Carb sei Dank ("Ich wollte endlich nicht mehr die Dicke sein"), auch das Selbstbewusstsein hat sich schnell erholt. Eine Hauptrolle im Musical "Die Vampertinger" lehrte die 14-Jährige zwar das Fürchten ("Ich konnte nicht singen und keinen Dialekt sprechen"). Sie traute sich trotzdem, sprang ins kalte Wasser und hielt durch.


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Die Bühne habe sie gerettet, sagt Lena Wölki und sucht im Flur ihres Puppenstuben-Häuschens nach den Schlüsseln. Wir spazieren wieder abwärts, über die schicke Fußgängerbrücke über den Kanal durch die Berchinger Altstadt, die gerade eine Riesenbaustelle ist.

Der hübsche 8600-Einwohner-Ort macht sich für die Touristen schön, wann, wenn nicht jetzt, wo Corona immer noch vieles lahmlegt. Da, sie zeigt auf eine Kneipe, habe sie mal gejobbt, es habe viel Spaß gemacht. Eigenes Geld zu verdienen, das war ihr schon immer wichtig.

In einer alten Fabrik neben einem Sportplatz stehen wir schließlich im dunklen Theatersaal. 17 Kindervorstellungen und neun für Erwachsene spielt das fleißige Ensemble im Jahr. Auch Lenas Freund, der Handwerksmeister, ist mit von der Partie. Dass sie jetzt als Regisseurin das Sagen hat, das werde schon gutgehen, heißt es. Ein Rollenwechsel kann auch in Paarbeziehungen fruchtbar sein.

Licht an, leere Reihen schlichter Holzstühle, ein Bühnenbild mit rotem Sofa und grünen Wänden, es riecht ein bisschen modrig. Sie liebt diesen gemütlich heruntergekommenen Ort. Doch bald zieht ihr Theater um in einen Neubau und die Kulturfabrik wird abgerissen. Das ist zwar schön, aber es bricht ihr auch das Herz.

Gibt es Parallelen zwischen dem Journalismus und der Arbeit auf der Bühne? Wölki nickt schnell, beides müsse lehrreich und informativ, ohne erhobenen Zeigefinger, aber auch unterhaltsam sein. Sie wolle weder dem Publikum noch ihrer Leserschaft sagen, sie seien dumm.

Arrogant sein, die Nase hoch tragen, in der eigenen Filterblase stecken bleiben, als Journalistin will die 23-Jährige so nicht werden. Klar gebe es den großen Auftrag der Presse, die Politik zu kontrollieren, Ungerechtigkeiten aufzudecken. Sie setzt sich kurz im Zuschauerraum, sucht nach Worten. Man könne aber auch ein wenig kleiner denken, daran, den Menschen zuzuhören und ihnen eine Stimme zu verleihen im Blatt.


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Dass so oft das böse Wort Lügenpresse fällt, wenn sie erzählt, was sie werden will, deprimiert Lena Wölki und macht sie ratlos. Wenn sie als Volontärin der Online-Redaktion die Kommentare der User kritisch im Blick behalten muss, befallen sie Zweifel. Sie sagt: "Mach‘ das eine Weile und du glaubst nicht mehr ans Gute im Menschen."

Die Theaterfabrik ist wieder abgesperrt, der Bus wartet. Auf dem Weg sinnieren wir, die junge und die altgediente Journalistin, noch ein wenig über die schwierige Zukunft der Printmedien und wie das alles wohl weitergehen wird. Lena meint, sie könne auch etwas ganz anderes machen, notfalls. "Aber es wäre nicht schön."

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