Helmut Gierse: Von der Technik zur Muse

11.8.2010, 16:05 Uhr
Helmut Gierse: Von der Technik zur Muse

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Dahinter steckt der Ansatz eines Menschen aus der Industrie: „Man hat Kunden, denen das Angebot gefallen muss. In diesem Fall sind das Kinder. Auf der anderen Seite stehen jene, die die Leistung erbringen. Das sind hier zum Beispiel Musiker oder Pädagogen. Sie müssen honoriert werden“.

Helmut Gierse erklärt das Projekt, das ihm heute am Herzen liegt und einen großen Teil seiner Zeit beansprucht: seine „Stiftung Persönlichkeit“. Im Vorstand arbeitet Gierse mit seiner Frau — sie ist Diplom-Sozialpädagogin — und Tochter — von Beruf Gymnasiallehrerin — zusammen.

Kinder- und Jugendprojekte zu fördern ist das Anliegen. Projekte liefen schon im Theater Mummpitz, in Kindergärten und Gymnasien. Musik oder Theater standen im Mittelpunkt. „Das Angebot hat den Kindern offensichtlich gefallen, sie haben begeistert mitgemacht“. Elf Projekte sind derzeit in der Mache.

Dabei bekennt sich Gierse zu seiner Technik-Begeisterung. Wieso dann die Muse? Der Ex-Siemens-Spitzenmanager erklärt: „Der Mensch ist nicht eindimensional und sollte keinen Teil verkümmern lassen, um seine Persönlichkeit herauszubilden. Das geschieht in den jungen Jahren, und im Austausch mit anderen. Wenn man sich mit musischen Dingen befasst, kann das später befähigen, besser mit möglichen Krisen umzugehen“.

Gierse vergleicht das im übertragenen Sinne mit den Teilen in einem Instrumentenkasten. Gut in der Betriebswirtschaftslehre zu sein, das reiche fürs Leben nicht aus.

32 Jahre bei Siemens

Die Stiftung will die Chance eröffnen, kreative Talente zu entdecken, und verfolgt letztlich ein pädagogisches Anliegen. In jungen Jahren wollte Gierse, Jahrgang 1950, tatsächlich selbst zuerst Lehrer werden — für Mathe, Physik und Sport. Es kam anders. 32 Jahre lang stand der gebürtige Essener schließlich im Dienste von Siemens, nach dem Studium in Erlangen, wo er teilweise aufwuchs. Lange Zeit lebte er außerdem in Mexiko.

Es kam, nach all den vielen Erfolgen — ab 2000 als Chef von Siemens-A&D — die Umstrukturierung. Gierse, theoretisch: „Jede Struktur muss man mal anpassen, sonst verkrustet sie“. Und praktisch? „Ich wurde gefragt, was mich interessieren würde und musste mich innerhalb von 48 Stunden entscheiden“.

Das war über ein Wochenende hinweg. Das Gespräch mit dem Konzernchef Peter Löscher wurde dann doch von Montag auf Dienstag verschoben. „Gemeinsam kamen wir dabei zum Ergebnis, dass es für mich sinnvoll ist, wenn ich ausscheide“.
Es war „ein Strauß von Überlegungen“. Eine: „Besser mit 57 nochmal was anderes tun als mit 70“. Natürlich war es ein Einschnitt. Gierse ist aber der sportliche Typ, hat früher Handball gespielt und ist Marathon gelaufen; den Abschied hat er sportlich genommen.

„Für mich war klar: Einmal Vorstand, immer Vorstand, das ist der falsche Ansatz“. Gierse dachte daran, noch einmal ein Studium aufzunehmen — vielleicht der Gartenarchitektur? Aber dann mit 62 Jahren Gärten entwerfen? Oder Golf spielen lernen? Sich ganz auf seine vier Enkel stürzen? Die werden auch älter.

Schnell wurde Gierse klar: Sein Wissen aus der Industrie wollte er weiter einsetzen — dass da allgemein viel Knowhow „brutal vernichtet“ wird und viel verloren geht in Deutschland, wenn Menschen in Rente gehen, sah er immer als ein allgemeines gesellschaftliches Problem.

Sein industrielles Engagement konzentriert Gierse heute auf die Themen Brennstoff-Zellen und Photovoltaik. So wirkt er in den Aufsichtsräten der Firmen Proton in München und Q-Cells mit inzwischen 2000 Mitarbeitern im Thüringer Solar Valley mit. Gierse glaubt schließlich fest an die Zukunft der dezentralen Energieerzeugung, die diese Technik ermöglicht.

Zudem ist Gierse assoziierter Partner bei der Firma Atreus in München. Die Firma sieht sich als Marktführer beim Einsatz von Interim-Managern in Deutschland. Hier geht es um die Vermittlung von Knowhow-Trägern auf der ersten oder zweiten Führungsebene.

Und Gierse ist überzeugt: Gesellschaftspolitisches Engagement ist wichtig, und eben in der Zeit der Rente gut möglich. Beim Ausscheiden aus dem Siemenskonzern war die Stiftung schon in die Wege geleitet. So war alles Weitere vorgezeichnet.

Die Förderung von Projekten durch die Stiftung läuft wiederum nach dem Prinzip, wie es in der Industrie üblich ist: Über Förderanträge, in denen Ziele klar umrissen sein müssen, bis zu einem Abschlussbericht. Der ist dann Grundlage für die Entscheidung über eine Weiterarbeit. Denn Nachhaltigkeit ist das Ziel — wie sie eigentlich eben auch in der Industrie ein Kriterium sein sollte.

Fleisch an den Knochen

Die Stiftung möchte nicht zuletzt Mosaiksteine bieten, um den Anspruch Nürnbergs als Hochburg von Kinderkultur auszubauen. Gierse: „Da muss aber Fleisch an den Knochen“.

Kontakte zu Siemensianern, die noch im Dienst sind, hat Gierse nach wie vor, aber sie sind lose. „Man trifft sich schon mal“. Hat er seinen Abschied von Siemens bereut? „Es war für mich nach der Heirat mit meiner Frau die genialste Entscheidung meines Lebens“. Auf die einst 80-Stunden-Woche könne er verzichten.

Fachbücher und -zeitschriften hat er weitgehend beiseite gelegt. Gierse besucht gern Kulturveranstaltungen, wozu er zu Siemens-Zeiten kaum mehr Gelegenheiten hatte. Er sagt: „Nürnberg bietet sehr viel Kultur, man braucht nicht nach München fahren“. Und im Urlaub nicht in die weite Ferne — Gierse geht lieber zum Bergwandern in die Alpen. Und Jogger brauchen sich nicht zu wundern, wenn sie ihm einmal im Stadtgebiet begegnen.