Nürnberger Expertin: "Strompreise statt Mehrwertsteuer senken"
14.11.2020, 17:16 UhrDer Sachverständigenrat erwartet für Deutschland 2020 einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) um 5,1 Prozent. Düstere Aussichten?
Veronika Grimm: Zunächst einmal ist unsere Prognose ja besser als alle anderen, die jüngst veröffentlicht wurden. Das lag daran, dass wir schon das überraschend positive dritte Quartal berücksichtigen konnten. Gleichzeitig flossen schon die seit November geltenden Einschränkungen ein. Fürs vierte Quartal erwarten wir daher ein leicht negatives Wachstum. Insgesamt ist es also nicht so schlimm gekommen, wie man es hätte befürchten können. Wobei der Einbruch im zweiten Quartal der stärkste Einbruch in einem Quartal seit Beginn der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung im Jahr 1970 war.
Heißt das, die deutsche Politik und die hiesigen Unternehmen haben richtig auf die Krise reagiert?
Grimm: Die Politik hat rasch und entschlossen gehandelt und reagiert. Gleichzeitig haben automatische Stabilisatoren, insbesondere das Steuersystem und das Kurzarbeitergeld, dazu beigetragen, dass es keine längerfristigen Brüche gab, und die Unternehmen mit dem Ende der Beschränkungen im Frühjahr sofort wieder ihre Tätigkeit aufnehmen konnten – wenn auch unter verschärften Hygienemaßnahmen. Mit dem Konjunkturpaket kam auch ein Zukunftspaket. Darin sind sehr viele Investitionen in die Zukunft im Bereich Gesundheit, im Bereich Erneuerbare Energien oder Digitalisierung vorgesehen. Diese Investitionen werden jetzt Stück für Stück vorangetrieben und legen Grundlagen für zukünftiges Wachstum.
Trotzdem kritisiert der Sachverständigenrat die Zielgenauigkeit der ergriffenen Maßnahmen. Was ist damit gemeint, und wie könnte es die Regierung besser machen?
Grimm: In der Gesamtschau bewerten wir im gesamten Rat das Handeln der Politik sehr positiv. Nichtsdestotrotz gibt es im Detail Bedenken, etwa bei der Mehrwertsteuersenkung. Aktuelle Studien zeichnen ein gemischtes Bild bei der Frage, ob die Absenkung weitergegeben wurde. In Supermärkten war dies wohl der Fall, an Tankstellen nur teilweise und eher in Segmenten, wo die Preissensibilität hoch ist. Eine Umfrage des Sachverständigenrats hat ferner gezeigt, dass eher Haushalte höherer Einkommensklassen planen, Käufe vorzuziehen oder zusätzliche Anschaffungen zu tätigen. Aber auch diese Haushalte planen dies nur zum Teil. Insofern ist das Bild sehr gemischt und so, dass die Mehrwertsteuersenkung nicht unbedingt denjenigen zugutekommt, die durch die Krise am härtesten getroffen wurden. Profiteure sind vielmehr Bereiche, in denen es ohnehin gut läuft, wie der Online-Handel. Wir raten klar davon ab, die Mehrwertsteuersenkung noch einmal zu verlängern – auch weil das eine sehr teure Maßnahme ist. Da wurden für das halbe Jahr schon um die 20 Milliarden Euro veranschlagt.
Stattdessen schlägt das Gremium eine Energiepreisreform vor, mit dem Ziel, Strom möglichst günstig zu machen. Was ist da der Hintergrund?
Grimm: Das haben wir aus ganz verschiedenen Blickwinkeln heraus angeregt. Eine Senkung der Strompreise kommt der Bevölkerung sehr breit zugute und gerade einkommensschwachen Haushalten – im Gegensatz etwa zur Mehrwertsteuersenkung. Sie schafft auch Entlastung als Gegenpol zu mittelfristig steigenden CO2-Preisen. Ein weiterer Aspekt ist industriepolitischer Natur: Mit dem Ziel der Klimaneutralität müssen alle Bereiche der Wirtschaft defossilisiert beziehungsweise dekarbonisiert werden. Da gilt es, den zunehmend erneuerbaren Strom zu nutzen, um die Sektoren Wärme, Mobilität und die Industrie zu defossilisieren. Das kann entweder über direkte Elektrifizierung geschehen oder auf dem Umweg über Wasserstoff und synthetische Energieträger. Die Kosten dieser sogenannten Sektorenkopplung werden ganz wesentlich durch den Strompreis getrieben. Niedrige Strompreise, in Verbindung mit einer konsequenten Bepreisung von CO2-Emissionen in allen Sektoren, verstärken daher die Anreize, in klimaneutrale Geschäftsmodelle zu investieren.
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