Wie Kinder lernen, was Demokratie bedeutet
3.4.2017, 08:00 UhrFrau Hörchner, muss jedes Kind Demokratie erst lernen?
Andrea Hörchner: Ihm muss vor allem demokratisches Grundbewusstsein vorgelebt werden. Man mag das vielleicht nicht glauben, aber das gilt schon für Krippenkinder – eigentlich sogar ab der Geburt.
Wie können Eltern einen Zweijährigen demokratisch erziehen, wenn die Machtstrukturen zu Hause klar sind? Mama und Papa haben das Sagen.
Hörchner: Wenn ich in der Familie eine demokratische Grundhaltung lebe, versuche ich zu erkennen, was der Willen des Kindes ist. Das zeigen übrigens schon ganz kleine Babys. Auf ihre Bedürfnisse einzugehen, ist die Basis für eine sichere Bindung. Und eine sichere Bindung ist die Basis dafür, im Leben eine tragfähige Beziehung zu anderen Menschen aufbauen zu können.
Sie meinen zum Beispiel: dass die Eltern kommen, wenn das Baby schreit?
Hörchner: Genau, dass sie prompt reagieren und feinfühlig darauf eingehen, was das Baby braucht. Aber es geht weiter - etwa damit, dass kleine Kinder den Mund wegdrehen, wenn sie nicht mehr essen wollen. Manche Eltern schieben ihrem Kind weiter den Brei in den Mund, damit das Gläschen leer wird. Wenn sie aber ständig über den Willen ihres Kindes hinweggehen, lernt es von ganz jungem Alter an: Meine Bedürfnisse werden ignoriert, hier geht es um Macht. Das setzt Grundlagen für die Zukunft – und macht viel mit dem Selbstwertgefühl eines Kindes.
Nun sagt aber jeder Experte auch, dass Kinder unbedingt Grenzen brauchen.
Hörchner: Ihre persönliche Grenze endet da, wo die des Erwachsenen beginnt. Ganz wichtig ist in der Familie, aber auch in der Kita, dass sich die Erwachsenen einig sind, wo diese Grenze verläuft - und nicht der eine allein in die eine Richtung zieht. Das haben Kinder nämlich schnell raus und versuchen dann, die Großen gegeneinander auszuspielen. Was die Grenzen der Mitbestimmung angeht: Nicht angemessen finde ich es etwa, wenn Kinder einbezogen werden in die Wahl eines neuen Autos.
Warum nicht? Das kommt ziemlich häufig vor.
Hörchner: Es hat viel mit dem Entwicklungsstand eines Kindes zu tun, inwieweit es einbezogen werden kann. Und beim Autokauf gibt es viele Aspekte, die man berücksichtigen muss - die kann ein kleines Kind noch nicht überblicken. Viel entscheidender ist, Kinder in Entscheidungen einzubeziehen, die sie selber betreffen.
Macht es Sinn, dass Eltern innerhalb der Familie über bestimmte Dinge abstimmen lassen?
Hörchner: Klar – immer unter der Voraussetzung, dass die Kinder verstehen, worum es geht. Dann kann ich zum Beispiel sagen: Jeder kriegt drei Punkte, die er verteilen kann. Zum Beispiel auf drei Urlaubsorte.
Wenn es dem Kind also egal ist, klebt es jeweils einen Punkt meinetwegen auf Ostsee, Spreewald und Mallorca - oder alle drei Punkte auf die Ostsee, wenn es da unbedingt hinwill. So?
Hörchner: Genau. Es gibt aber auch Themen, um die darf gerungen werden, bis die Familie einen Kompromiss findet, mit dem alle zufrieden sind – und wenn es der kleinste gemeinsamen Nenner ist. Nehmen wir an, zwei streiten sich, wer eine Orange bekommt. Wenn ich die Orange einfach durchschneide, ist keiner glücklich - jeder will ja die ganze haben. Ich muss also erst mal gucken, was die echten Bedürfnisse sind und fragen, was eigentlich so toll an dieser Orange ist. Dann kann es sein, dass das erste Kind sagt: "Mir schmeckt der Saft so gut!" Und das zweite sagt: "Ich brauche die Schale für meinen Nachtisch!" Schon gibt es eine Lösung.
Auf Ihrer Internetseite haben Sie Briefe von Kindern veröffentlicht, die sich bedanken, dass Sie Ihnen beigebracht haben, richtig zu streiten - eine wichtige Eigenschaft in einer Demokratie. Wie lernen Kinder so was?
Hörchner: Grundsätzlich erscheint es mir sehr wichtig, dass sich Eltern Zeit nehmen. Ich erlebe, dass viele im Hamsterrad sind mit Berufstätigkeit, Haushalt und Kindern. Aber streiten lernen ist eine unglaublich wichtige Aufgabe, die man nicht unterschätzen darf und für die es Zeit braucht.
Wie sollten Mütter und Väter denn reagieren, wenn es mal hoch hergeht?
Hörchner: Zuerst beobachten. Wenn meine beiden Kinder sich streiten, schaue ich, ob sie selbst zu einer Lösung kommen. Aber wenn es eine Richtung einschlägt, die ich nicht zielführend finde, dann höre ich jeden an: Was ist deine Sicht, wie hast du es erlebt? Der andere sollte dabei möglichst nur zuhören. Da geht es nicht um richtig oder falsch - denn die Wahrheit empfindet jeder unterschiedlich. Es geht um die eigenen Gefühle: Was macht das mit mir, wenn du meinen Legoturm zerstörst? Dadurch lernen Kinder ja auch, ihre Gefühle zu verbalisieren - und dass es okay ist, mal wütend zu sein.
Was passiert, wenn Eltern überbehütend sind - die sprichwörtlichen Helikoptereltern?
Hörchner: Dann vermitteln sie ihren Kindern indirekt: Du kannst es nicht - und ich kann es besser. Das wirkt sich ungünstig auf das Selbstwertgefühl und die Selbstwirksamkeit ihres Kindes aus. Es wäre zielführend, wenn Eltern sich (solange es nicht gefährlich wird) zurückhalten und einfach mal zuschauen könnten. Dann haben Kinder die Chance, aus eigener Erfahrung zu lernen.
Nichts zu machen, ist für viele Eltern das Schwerste überhaupt.
Hörchner: Ja, da spielt natürlich auch die Angst eine Rolle - und jeder will ja das Beste für sein Kind. Das ist ja klar.
Was passiert mit Kindern, die nie in Entscheidungen einbezogen werden?
Hörchner: Ein Beispiel aus einer aktuellen Beratungssituation: Ein Achtjähriger wird um 16 Uhr vom Hort abgeholt. Es ist total platt, der Tag war anstrengend. Es kommt also durch die Haustür - und der Vater fordert, dass er sofort die Hausaufgaben zeigt und den Rest für die Schule erledigt. Der Junge hat aber die Erwartung, dass er jetzt einfach mal Ruhe hat, ein bisschen chillen kann. Diese Erwartung wird aber nicht erfüllt, er ist also erst mal enttäuscht.
Was macht so eine Erziehung langfristig mit einem Kind?
Hörchner: Die Frage ist vor allem: Hat das Kind gelernt, mit so einer Situation wie eben beschrieben konstruktiv umzugehen - oder destruktiv? Im ersten Fall sagt es zum Vater: Bitte lass uns was vereinbaren. Ich will eine halbe Stunde meine Ruhe haben, und dann mache ich meine Hausaufgaben. Hat das Kind aber nie so eine Gesprächskultur gelernt, so ein Miteinander – dann kann es sein, dass es aggressiv wird, zum Beispiel um sich haut, Gegenstände zerstört.
Je älter Kinder werden, desto mehr kann sich das Ignorieren ihrer Bedürfnisse zu problematischen Verhaltensweisen entwickeln. Im schlimmsten Fall fangen sie irgendwann an, Drogen zu nehmen, sich zurückziehen, exzessiv Computer zu spielen oder werden sogar depressiv.
Sie sagen selbst, dass Krippen und Kitas sehr viel leisten können, um Kindern demokratische Werte zu vermitteln. Wie stark dürfen die Kleinen dort denn schon mitbestimmen?
Hörchner: Es gibt Einrichtungen, die sehr engagiert oder auf einem guten Weg sind. Aber es gibt auch einige, die Kinder noch kaum in Entscheidungen einbeziehen. Das hängt sehr vom Personal ab und inwieweit es selbst demokratisch geprägt worden ist. Wenn ich Fortbildungen für Kita-Personal mache, steht ganz zu Anfang die Aufgabe, selbst zu reflektieren: Inwieweit haben mich meine eigenen Eltern einbezogen, bin ich übergangen worden? Dann tauschen sich die Teilnehmer darüber aus. Viele verstehen so, warum ihre Kollegin ganz anders tickt als sie selbst. Noch ein wichtiger Punkt ist: Personal und Eltern müssen sich einig sein, in welchen Bereichen die Kinder mitbestimmen sollten. Das geht los mit Regeln und endet mit Anschaffungen, der Tagesgestaltung, mit Schlafen, Essen, Wickeln - im Prinzip mit allem.
Wie - die Kinder sollen sich jeden Tag aussuchen, was sie essen?
Hörchner: So ungefähr. Das schönste Beispiel für mich ist die Frühstücks-Box. Viele Einrichtungen lassen die Eltern eine Box füllen. Und in der Regel läuft das morgens ja eher hektisch ab. Das Kind kommt also in die Kita, macht die Box auf und hat dann vielleicht ein Salami-Brot, das schon Fettaugen hat, weil es warm draußen ist - und der Nachbar hat etwas viel Leckereres in seiner Box. Nun gibt es Einrichtungen, die gezielt auf so etwas achten. Die bieten ein Frühstück mit Buffet-Charakter an, das Personal sorgt also für gesunde Ernährung - und das Kind entscheidet selbst, was es davon essen möchte.
Das heißt, alle legen ihre Wurstbrote aus der Frühstücks-Box aufs Buffet?
Hörchner: Ideal wäre es, wenn das Personal mit den Kindern überlegt, was man zum Frühstücken braucht - und dann mit ihnen einkaufen geht. Das sind Bildungsprozesse, denen man sich manchmal gar nicht bewusst ist. Da können die Kleinen überlegen, wie dies oder jenes heißt und ob sie eine exotische Frucht gern mal probieren möchten.
Ziel ist also auch, dass die Kleinen aus ihrer "Komfort-Zone" ausbrechen?
Hörchner: Ja. Aber es gibt auch Kinder, die zu Hause kaum gesundes Essen bekommen. Auf diesem Weg kann man es ihnen bieten, ohne ständig Diskussionen mit den Eltern darüber führen zu müssen, dass die Milchschnitte ungesund ist. Außerdem ist es immer wieder toll zu sehen, was Kleinkinder alles können: Da schmieren Zweijährige ihr eigenes Brot. Die Mutter holt sie dann ab und sagt: Was? Meine Tochter kann das? - das hätte sie ihr gar nicht zugetraut. Aber wenn das Personal es anbietet, lernt sie das eben. Auf der anderen Seite gibt es Kitas, die meinen, dass sie schon viel tun - und wenn man genauer hinschaut, stimmt das gar nicht.
Das heißt: Mitbestimmung für die Kinder, aber nur auf dem Papier?
Hörchner: In diesen Kitas macht sich der Tagesablauf am Personal fest - dabei muss er sich nach den Kindern richten, davon bin ich überzeugt. Sagen wir, eine Krippengruppe macht einen Ausflug. Die Kinder entdecken eine Ameisenstraße, stehen ganz fasziniert davor und beobachten, was die Ameisen da alles rumtragen. Aber für das Personal tickt die Uhr, es gibt ja gleich Essen. Also hetzen sie die Kleinen schnell zurück. Dabei sind die Kinder im Alltag schon gehetzt genug. Deswegen ist es so wichtig, das die Erzieher sagen: Passt auf, ich rufe an, wir bleiben noch 20 Minuten hier. So flexibel muss eine Einrichtung sein.
Wenn eine Krippe nicht so fortschrittlich ist - sollten Eltern Druck machen?
Hörchner: Druck bewirkt eher Gegendruck. Ich bin dafür, dass Menschen sich selbst überzeugen. Deshalb würde ich Elternbeiräten raten, mal eine partizipative Fortbildung anzuregen - das kann sehr viel bewirken, weil Mitbestimmung eben vor allem von Haltung abhängt.
Was halten Sie eigentlich von Kinderparlamenten?
Hörchner: Kinderparlamente als Möglichkeit, Kinder in der Kita zu beteiligen, halte ich für sehr sinnvoll. Hier werden Entscheidungen demokratisch getroffen. Auf politischer Ebene, etwa in Stadtteilkinderversammlungen, kommt es darauf an, wie Politiker damit umgehen. Es muss vor allem transparent sein, ob sie das, was die Kinder sich gewünscht haben, umsetzen. Und falls nicht, müssen sie ihnen das auch erklären.
Finden Sie, dass Jugendliche auch in "echten" Parlamenten sitzen sollten - oder ist Ihnen das zu extrem?
Hörchner: Ich persönlich glaube, es wäre erfrischend, wenn 14-Jährige mit im Parlament sitzen. Die kämen vermutlich auf Ideen, die Erwachsenen nicht einfallen. Und auch da findet Demokratie statt - warum sollten die Kinder nicht das Recht haben, gehört zu werden? So steht es schließlich auch in der UN-Kinderrechtskonvention. Warum sollte dieses Recht erst mit 18 Jahren gelten?
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