Amazon und Co.: Wie große Konzerne US-Städte verändern

15.11.2018, 19:35 Uhr

The Spheres, eine Art Tropenpark unter Glas im Viertel South Lake Union, in dem sich die Mitarbeiter der Amazon-Zentrale zwischen Schlingpflanzen und Orchideen entspannen können. © Frank Herrmann

Es gibt gläserne Bürogebäude mit klingenden Namen, Gatsby, Houdini, Invictus. Und es gibt die "Spheres", ein Ensemble von Glaskuppeln, das an ein futuristisches Gewächshaus nicht nur erinnert, sondern tatsächlich eines ist.

Zwischen Feigenbäumen, Schlingpflanzen und Riesenfarnen, unter Hängebrücken, die zu Sitzinseln in luftiger Höhe führen, können sich die Mitarbeiter der Amazon-Zentrale entspannen, auf dass ihnen die Kreativität nicht abhanden komme. Quer durch South Lake Union fährt eine Straßenbahn, ein seltener Anblick in amerikanischen Großstädten. Ein kleiner Gag am Rande sind die Bananen, die auf einer Plaza kostenlos verteilt werden, nicht nur an die eigenen Leute, sondern gern auch an zufällige Passanten, wie das Unternehmen betont.

Rund vierzigtausend Beschäftigte arbeiten inzwischen am Hauptsitz von Amazon in Seattle, wo Bezos den Alles-Lieferanten einst gründete. Dass die Firma eine öde Ecke der Stadt in eine pulsierende verwandelte, kann niemand bestreiten. Nur lässt sich am Pazifik auch die Kehrseite der Medaille studieren. Die dreihunderttausend Menschen, die in den vergangenen fünf Jahren wegen des Hightech-Booms nach Seattle und Umgebung zogen, treffen auf eine Infrastruktur, die dem Ansturm nicht gewachsen ist. Als Folge mangelnden Wohnraums sind die Mieten rasant gestiegen, die Hauspreise haben sich fast verdoppelt. Nach San Francisco und San Jose, der Silicon-Valley-Drehscheibe, ist Seattle mittlerweile die US-Metropole mit den höchsten Lebenshaltungskosten.

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Wer bei Amazon 100.000 Dollar pro Jahr verdient, das ist der Durchschnittslohn, kann sich ein Zwei-Zimmer-Apartment für zweitausend Dollar Monatsmiete aufwärts wohl leisten. Viele Alteingesessene können es nicht, so dass sie entweder in billigere Gegenden ziehen oder schlimmstenfalls im Zelt unter einer Brücke landen. Rund elftausend Obdachlose leben mittlerweile in Seattle. Als die Stadtverwaltung größere Unternehmen mit einer Sondersteuer zur Kasse bitten wollte, um mehr Geld zur Linderung der Wohnungskrise ausgeben zu können, ging Bezos auf die Barrikaden. Solange der Plan zur Debatte stehe, werde Amazon die Arbeiten an einem Wolkenkratzer in der Innenstadt einstellen, ließ er ausrichten. Im Juni war die Blaupause vom Tisch.

Amazon-Pakete in Denkmalsgröße

Das Beispiel Seattles wirft die Frage auf, ob New York und Washington nun auf der Siegerseite stehen, weil sie einen harten Standortwettlauf gewonnen haben. Vorausgegangen war ein Bieterwettstreit, bei dem 238 Städte um die Gunst des Konzerns buhlten, um dessen zweiten Hauptsitz in Nordamerika und damit fünfzigtausend in Aussicht gestellte Arbeitsplätze an Land zu ziehen. Ein Wettstreit mit kuriosen Einlagen. Der Bürgermeister von Kansas City versprach, höchstpersönlich eintausend Amazon-Produkte nicht nur zu kaufen, sondern sie auch zu bewerten. Birmingham in Alabama ließ Amazon-Pakete in Denkmalsgröße aufstellen. Andrew Cuomo, der Gouverneur des Bundesstaats New York, gab zum Besten, er wolle fortan Amazon Cuomo heißen, falls New York den Zuschlag bekomme. Im Spätsommer entschied Bezos, das zweite Hauptquartier auf zwei Standorte aufzuteilen, mit 25.000 Jobs für jeden. Schon damals sprachen Kritiker von einem raffinierten Täuschungsmanöver, weil Bezos mit dem einen großen Hauptpreis gelockt hatte, der sich dann nur als halber erwies. Jetzt, da die Würfel gefallen sind, nimmt der Diskurs wirklich kontroverse Züge an.

Gutverdiener verdrängen Bewohner

Im Ballungsgebiet Washington macht Crystal City das Rennen, ein Vorort in der Nähe des Pentagon, geprägt durch hässliche Büroklötzer aus den Sechzigern und Siebzigern. In New York ist es Long Island City, ein Viertel in Queens, gegenüber dem Gebäude der Vereinten Nationen am Ostufer des East River gelegen. Nachdem die Sache entschieden war, wurde bekannt, welche finanziellen Anreize der Bundesstaat und die Stadt New York in die Waagschale warfen, um die Konkurrenz zu schlagen. Insgesamt fördern sie die Ansiedlung mit 2,8 Milliarden Dollar an Subventionen und Steuererleichterungen. Ein Deal auf Kosten des Steuerzahlers, der den Anwohnern praktisch nichts bringe, tadelt Michael Gianaris, ein Lokalpolitiker, der Long Island City im Senat seines Bundesstaats vertritt. "Je mehr wir über diesen Deal erfahren, umso schlimmer wird es", schimpft Gianaris und warnt vor dem Seattle-Effekt. Vor der Wandlung eines Viertels, dessen heutige Bewohner demnächst verdrängt werden von den Gutverdienern der Softwarebranche. Vor einer Gentrifizierung, bei der ein altes Stück Queens seine Seele verliere.

Bill de Blasio, der Bürgermeister New Yorks, präsentiert wiederum optimistische Schätzungen. Für jeden Dollar, mit dem man Amazon subventioniere, fasst er zusammen, bekomme man neun Dollar zurück, durch Investitionen, durch Wachstum, durch zusätzliche Arbeitsplätze weit über den Amazon-Kern hinaus. Allerdings machte der Handelsriese nach vollzogener Kandidatenkür deutlich, dass ein Auswahlkriterium weit vor allen anderen rangierte: die Verfügbarkeit technikaffiner College-Absolventen, allen voran Ingenieure und Programmierer. In so großer Zahl finde man sie nur in großen Ballungsräumen, erläuterte Firmensprecher Jay Carney, der unter dem Präsidenten Barack Obama Kommunikationsdirektor im Weißen Haus war. In Washington und New York lässt es die Kritiker fragen: Wenn beide Städte anzubieten haben, was Amazon braucht, wieso wirft man Jeff Bezos dann noch so viel Geld hinterher?