"Der Mut des Aufbegehrens der 68er " fehlt heute

4.11.2018, 06:15 Uhr

Als Studenten und Studentinnen 1968 skandierten: "Unter den Talaren der Muff von 1000 Jahren", so war das eine sehr bildhafte und einprägsame Beschreibung der Zustände an den Universitäten. Muff gab es allerdings nicht nur unter (vielen) Talaren, sondern in der gesellschaftlichen Wirklichkeit der Bundesrepublik Deutschland.

Das Jahr 1945 wird oft als "Stunde Null" bezeichnet. Das stimmte sicher für die vielen Menschen, die ihr Hab und Gut, manchmal auch ihre Heimat verloren hatten und wieder von vorne anfangen mussten. In den Verwaltungen, in der Wirtschaft, an den Universitäten, in der Justiz und nicht zuletzt in der Politik war von Neuanfang, von einer Zäsur nichts zu erkennen. Richter, die in der Nazizeit Un-Recht gesprochen hatten, wurden in ihre alten Positionen eingesetzt. Einer von ihnen wurde 1969 sogar zum Bundeskanzler gewählt – Kurt Georg Kiesinger. Hans Globke, der an den Nürnberger Rassegesetzen mitgearbeitet hatte, war unter Adenauer Staatssekretär im Bundeskanzleramt.

Die Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit an den Universitäten erfolgte erst Jahre, oft Jahrzehnte, später.

Werbung
Werbung

Meine Generation – eingeschult 1945 – wurde weder in der Grundschule noch auf dem Gymnasium mit der Nazivergangenheit "belästigt" – von wenigen, eher zufälligen Ausnahmen abgesehen. In den Familien wurde eher geschwiegen. Ich denke, wir haben auch zu wenig gefragt. Gefragt haben aber die etwas später Geborenen, die sogenannten 68er.

Die Gefangennahme von Adolf Eichmann 1961 und der Auschwitzprozess 1963 haben sicher eine Rolle gespielt. Ich halte die unbewältigte Vergangenheit in der Bundesrepublik für einen wesentlichen Impuls für die studentischen Unruhen ab 1967. Studentenbewegungen in anderen Ländern sind auf sehr unterschiedliche Ursachen zurückzuführen.

Weitere Ursachen für Proteste – zumeist im studentischen Milieu – liegen in der Entwicklung in der Nachkriegszeit. Diese war einerseits geprägt von einer enormen Aufbauleistung und zunehmendem Wohlstand, andererseits aber von gesellschaftlichem Stillstand. Beispiele: Frauen waren zwar nach dem Grundgesetz gleichberechtigt, in der Realität aber weit entfernt davon. Erwartet wurde, dass Frauen nach der Geburt eines Kindes dann doch zu Hause bleiben sollten, um sich ausschließlich um Mann und Kind(er) zu kümmern. Nicht vorhandene Kinderbetreuungseinrichtungen taten ein Übriges. Es gab einen "Kuppelei-Paragraphen", Homosexualität stand unter Strafe – das sind nur einige wenige Beispiele für den Muff, der im Lande herrschte.

Gleichzeitig mit dem Aufbegehren der in erster Linie studentischen Jugend tat sich jedoch auch in der Politik etwas. Dafür stand und steht bis heute Willy Brandt. Schon sein "Wandel durch Annäherung", der die starren Fronten zwischen den Blöcken in Ost und West aufweichen sollte, sein "Blauer Himmel über der "Ruhr", sein "Mehr Demokratie wagen", das alles waren neue Ideen, eröffneten Möglichkeiten zur Veränderung und machten Lust darauf, sich zu beteiligen. Das war dann 1969 auch Anlass für mich persönlich, mich politisch zu engagieren und in die SPD einzutreten. Es herrschte eine bis dahin nicht gekannte Aufbruchstimmung, die mich angesteckt hatte.

Was ist geblieben von 1968? Alles, was wir an Freiheiten, an demokratischer Teilhabe, an Offenheit und Vielfalt, an Gleichberechtigung, an Chancen haben, ist nicht zuletzt auf das Aufbegehren junger Menschen zurückzuführen, die den Mut hatten, den "Muff von 1000 Jahren" zu lüften. Leider gibt es auch bei uns Tendenzen, die rückwärtsgewandt diese Errungenschaften in Frage stellen – nicht nur bei der AfD. Ich wünsche mir wieder mehr Widerstand und Aufbegehren. Es steht viel auf dem Spiel.