Erinnerungen an unvergessliche Ferien in Aha

8.6.2020, 16:25 Uhr

Wir schreiben das Jahr 1960, die Berliner Mauer steht noch nicht, auch die bayerische Gebietsreform liegt noch in weiter Ferne. Trotz des in den 1950er Jahren aufkommenden Wirtschaftswunders herrschte damals vor allem in den Großstädten großer Mangel an allem. Nicht nur beim Essen, auch sonst gab es nicht viel zum Lachen – vor allem für Kinder.

Berlin war von der "Ostzone" eingeschlossen und längst keine Hauptstadt mehr. Aber das Schicksal der gebeutelten einstigen Metropole blieb auch in Westmittelfranken nicht ohne Wirkung. Der damalige Gunzenhäuser Landrat Hansgeorg Klauss rief die Bevölkerung dazu auf, doch bitteschön Kinder aus dem fernen Berlin über die Sommerferien aufzunehmen. Kinderverschickung nannte man diese ungewöhnliche Hilfsaktion.

Gunzenhäuser zeigten Herz

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Die Gunzenhäuser und vor allem die Bewohner der Dörfer zeigten Herz und so begrüßten Klauss und viele Bürgermeister Mittel Juli fast einhundert Kinder am Bahnhof in Gunzenhausen. Der Altmühl-Boten titelte in der Samstagsausgabe vom 23. Juli 1960: "Fast hundert Berliner Kinder im Landkreis". Mitten unter ihnen befand sich der 13-jährige Wolfgang Eimers. Schüchtern, dünn und ein wenig ungläubig stand der aus dem Bezirk Reinickendorf im Norden Berlins stammende Bub zwischen vielen anderen Steppkes aus seiner Geburtsstadt.

Frieda Ortner und ihr Mann Fritz sollten sich in den nächsten sechs Wochen um den Jungen kümmern. Ein wahrer Glücksfall, wie sich herausstellen sollte. "Ick war ein Kind, war noch nie so weit weg, total aufgeregt, zu wem ich komme", erinnert sich der heute 72-jährige Eimers als wäre es erst gestern gewesen.

Heute sitzt der graumelierte Herr mit dem markanten weißen Schnauzer mit seiner Frau Evi wieder in Aha bei den Ortners – die jetzt aber Lottmann heißen. Gerda war die damals achtjährige Tochter von Fritz und Frieda Ortner und ist heute mit Oskar Lottmann verheirtet. Damals aber, als der junge Wolfgang, den alle nur Wolle riefen, in Aha in der Schreiner- und Landwirtsfamilie Ortner sechs lange Wochen lebte, war Gerda seine Spielkameradin. Zusammen mit ihrem elfjährigen Bruder Fritz halfen die Kinder bei der Ernte, misteten den Stall aus, schauten beim Schlachten zu, beobachteten Störche, Frösche und genossen nach Herzenslust die Vorzüge des Landlebens. Kein riesiges Mietshaus in der Großstadt, kein Kohlenschleppen in den zweiten Stock, wie es Wolle gewohnt war, dafür Dorfleben pur samt einem sehr fremdartigen Dialekt. "Mogst a Gackerla", fragte eines Morgens die Ferienmama und Wolle schaute sie verständnislos an. Als er später in Berlin einmal "a Gackerla" im Lebensmittelgeschäft verlangte, hatte er die Lacher auf seiner Seite.

Freie, unbeschwerte Wochen

"Wie roch der Sommer 1960 in Aha?" Wolfgang Eimers lehnt sich zurück, schließt die Augen und nach wenigen Sekunden sprudelt es aus ihm heraus: "saftige Wiesengerüche, Mist vom Schweinestall, der Duft vom warmen Kuhstall und das frisch geschnittene Holz der Schreinerei". Sommer 1960, das waren freie und unbeschwerte Wochen voller Abenteuer, neuer Freunde, neuer Sprache und vor allem "Mahlzeiten, die satt machen". Der dünne Junge muss an die frische Luft und zulegen, hatte seine Mutti in Reinickendorf beschlossen – und Wolle tat ihr den Gefallen. Fränkische Bratwürste, Schweinebraten oder eine ordentliche Brotzeit, das waren die Gerichte, "die mir bis heute das Wasser im Mund zusammen laufen lassen", sagt der pensionierte Polizeibeamter, der längst nicht mehr in Berlin lebt. Im Westerwald hat er eine neue Heimat gefunden.

Ein Jahr später, im Sommer 1961, ging es wieder Richtung Franken und Wolle freute sich unbändig auf sechs Wochen Landleben bei den Ortners. Dass ausgerechnet in dieser Zeit Weltgeschichte geschrieben wurde, konnte der Jugendliche damals nicht ahnen. Die Berliner Mauer wurde am 13. August gebaut, das gesamte Land befand sich in Schockstarre. Ein dritter Weltkrieg drohte.

Pflegemama Frieda Ortner hörte voller Sorge die Nachrichten im Radio, einen Fernsehapparat gab es bei den Ortnerns nicht. "Ja, was machen wir denn mit dir, wenn du nicht mehr zurück kannst?", fragte sie ihn. Und Wolle ganz pragmatisch: "Dann bleib ick einfach bei euch". Dieses Erlebnis hat sich bei dem jungen Wolfgang "tief eingebrannt". Reinickendorf aber lag im französischen Sektor und so konnte die Mutter ihren Sohn schließlich überglücklich wieder in die Arme schließen.

Danach verlor man sich aus den Augen. Erst 26 Jahre später, 1987, machte sich der damals 40-jährige Vater zweier Kindern auf Spurensuche und besuchte die Ortners in Aha.

Trotz unterschiedlicher Lebensentwürfe blieben die Familien eng verbunden. Vor zwei Jahren rief Frieda ihn an, um zum 70. Geburtstag zu gratulieren. Anlass genug für Wolfgang Eimers, seiner zweiten Frau Evi den Ort "mit den schönsten Sommerwochen seiner Kindheit" zu zeigen. Und was hat Wolfgang Eimers damals am meisten genossen? "Ich war Einzelkind und hier erlebte ich eine richtige Familie", kommt die Antwort prompt. Die Eltern Fritz und Frieda mit ihren Kindern Gerda und Fritz, dazu die Tanten Babett und Luise. "Das war Leben pur". Es wurde gespielt, erzählt, ohne Murren geholfen. Es gab keine Smartphones, keine Streamingdienste, kein Internet, "wir hatten nur uns".