Gunzenhausen: Geburtstagskerze für Frieda Faulstich

4.1.2018, 06:35 Uhr

"Gemmer aweng ibern Friedhof!" – Diesen Vorschlag hat meine betagte Mutter oft gemacht, wenn ich mit ihr etwas unternehmen wollte. Ich hätte lieber einen Waldspaziergang gemacht, doch sie wollte ihre Verstorbenen besuchen – und im hohen Alter hat man da allerhand Anlaufpunkte. Zuallererst ging es zum Familiengrab, dann wurde das Grab meiner Oma besucht und schließlich zogen die Verwandten- und Bekanntenbesuche immer weitere Kreise. Ohne die Hilfe meiner Mutter finde ich mich heute schwer zurecht, doch dann fallen mir die alten Wegbeschreibungen wieder ein, die in unserer Gärtnersfamilie so etwas wie die Straßennamen des Friedhofs waren: Unterhalb und oberhalb vom Massengrab, über der Halle, an der alten Mauer. Besonders die wenigen alten Familiengrabmäler setzen Wegmarken im Labyrinth der heutzutage einheitlich großen, polierten Steine. Ich drehe also die Familienrunde und an der letzten Ruhestätte meines Onkels erinnere ich mich an seine "Adresse": in der Reihe von den Faulstichs.

Ja, das Grab der Faulstichs hatte schon immer eine eigene Anmutung: efeuumrankte, einzelne, an einem Vorsprung der Friedhofsmauer angebrachte Grabplatten, in die Namen, Geburts- und Sterbedaten mehrerer Generationen dieser alteingesessenen Gunzenhäuser Familie eingemeißelt sind.

Das Familiengrab Faulstich erzählt einerseits von einstiger Größe und Bedeutung dieser Kaufmannsfamilie, andererseits weist es auf einen aus den Adressbüchern Gunzenhausens verschwundenen Namen hin. Das Besondere: Hier lässt sich die Familiengeschichte ein Stück weit rekonstruieren, denn sie ist eng mit Gunzenhausens Geschichte und den Zeitläuften verknüpft. Im Zentrum steht Frieda Faulstich, geboren am 4. Januar 1890, verstorben am 23. März 1968.

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Eine verbitterte Alte?

Vielen Gunzenhäusern ist sie womöglich noch als jene alte Frau in Erinnerung, die oft vom Fenster ihres Hauses in der Brunnengasse neben dem Blasturm heruntergeschimpft hat. Gerade auf die Kinder hatte sie es abgesehen und ihnen gerne mal ein bisschen Angst gemacht. Frieda Faulstich, die verbitterte Alte? – So soll sie nicht in Erinnerung bleiben! Hier also ihre Geschichte, wie ich sie aus den Berichten ihres Enkels Rainer Carben und den von ihm überlassenen heimatgeschichtlichen Artikeln und Unterlagen verstanden habe:

Frieda Faulstich, geborene Bestelmeyer, war die Tochter des gut situierten Bestelmeyer-Wirt, dem ersten Bahnhofswirt in Gunzenhausen. Die Gaststätte war in dem 1865 eröffneten Empfangsgebäude untergebracht. Gunzenhausen war Haltestation der Ludwig-Süd-Nord-Bahn und lag damit an der ersten Staatsbahnstrecke der königlich-bayerischen Eisenbahn von Hof nach Lindau. Während heute Bahnhofswirtschaften oft nicht gerade ein gutes Renommee genießen, hatte die Gaststätte seinerzeit einen sehr guten Ruf, längere Stationsaufenthalte wurden im Fahrplan eingeplant, damit die Reisenden hier speisen und sich erfrischen konnten.

Schon als junge Frau spielte sie Klavier, Gitarre und Akkordeon. Dabei lag dem Mädchen mit der schönen Singstimme wohl eher die leichte Muse, Operetten, populäre Lieder und volkstümliche Musik. Ihr Enkel Rainer Carben erzählt, dass seine Mutter ihn zu einer klassischen Klavierlehrerin geschickt hat, weil sie nicht wollte, dass seine Oma ihn unterrichtete, die auch noch im hohen Alter mit viel Temperament ihre Schlager gespielt hat.

Hochgewachsen, schlank und eine elegante Tänzerin, so wird die junge Frieda beschrieben. Und so war es kein Wunder, dass sich Ludwig, der Sohn des Kommerzienrats Ludwig Faulstich senior, in das temperamentvolle Fräulein verliebte. Im Jahr 1909 feierten die beiden Hochzeit, Frieda war damals erst 19 Jahre alt.

Für die Gunzenhäuser müssen Ludwig Faulstich und seine Frieda ein Traumpaar gewesen sein. Die Faulstichs waren eine hoch angesehene Familie und Ludwig sollte das florierende Handelshaus in dritter Generation führen. Sein Vater hatte das Geschäft zu einem bedeutenden Handelshaus im nordbayerischen Raum gemacht und die Faulstichs betrieben nach Kathreiner die zweitgrößte Kaffeerösterei Bayerns. Diese wurde in den Wirtschaftsgebäuden des Anwesens Marktplatz 17 betrieben. Heute nennt man das Gebäude das "Zuberhaus", aber über der hölzernen Eingangstür erinnern noch immer die Initialen LF an die erfolgreichen Kaufmannsgenerationen.

Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs ging es steil bergauf mit der Firma. 1916 verlieh König Ludwig III. dem "Großkaufmann Ludwig Faulstich Senior" das König-Ludwig-Kreuz für Heimatverdienste während der Kriegszeit. Auch den Titel Kommerzienrat durfte der Gunzenhäuser Geschäftsmann seither tragen.

Friedas Ehemann Ludwig musste also, nachdem das Geschäft in seine Hände übergegangen war, in ganz schön große Fußstapfen treten. Zunächst lief alles gut, und dank seiner musisch begabten Frau war das Paar ein Dreh- und Angelpunkt des gesellschaftlichen Lebens der Stadt. Frieda engagierte sich für das Rote Kreuz und hatte bei so mancher Wohltätigkeitsveranstaltung einen Auftritt als Sängerin und Pianistin.

Auch in der Casino-Gesellschaft, einer Art Rotary Club für Gunzenhausens feine Gesellschaft, und im Musikverein Liederkranz war Frieda Faulstich eine tragende Säule. In den 1930ern setzte sie kleine Sing- und Märchenspiele in Szene. "Meine Großmutter hat das Playback erfunden", berichtet ihr Carben scherzhaft: So sei in der Familie immer vom Singspiel "Der Froschkönig" erzählt worden. Friedel, eine Tochter von Frieda Faulstich, durfte damals die Prinzessin spielen, doch ihrer Mutter gefiel die Singstimme von Richie Henkel besser. Diese musste dann hinter dem Vorhang stehen und der Prinzessin ihre Stimme leihen. Dass die bayerische Landesbühne in Gunzenhausen Auftritte hatte, dass junge Menschen Klavier und Gitarre bei ihr lernten und junge Paare Tanzunterricht nehmen konnten – auch dies ein Verdienst von Frieda Faulstich.

Mit Veilchentuff am Revers

In den 1970er-Jahren hat Anita Wischer, damals eine sehr aktive Kulturberichterstatterin des Altmühl-Boten, ihre Jugenderinnerungen an die junge Hausfrau im Hause des Kommerzienrates aufgeschrieben. Als Zwölfjährige hat sie Frieda Faulstich kennengelernt: "Gänzlich unkonventionell, charmant und liebenswürdig, eine Dame von Eleganz, den Veilchentuff am Revers der Pelzjacke, war sie das Idol einer idealisch gestimmten Jugend."

Im Jahr 1934 gab es noch eine gefeierte Singspiel-Aufführung unter Frieda Faulstichs Leitung, doch die Glanzzeit Friedas, der Familie und des Handelshauses neigte sich dem Ende zu. Die Faulstichs waren wohl nationalkonservativer Gesinnung gewesen, königstreu und gewiss keine Anhänger der nationalsozialistischen Bewegung. Die verbot sich in der weltoffenen Familie schon deshalb, weil eine der besten Freundinnen des Hauses, Elsa Seller, Jüdin war.

Ende der 1930er erhöhte sich der politische und wirtschaftliche Druck auf Ludwig Faulstich. Da er sich öfter in Begleitung von Elsa Seller zeigte, wurde den beiden eine Liebschaft nachgesagt. Als 1938 die Polizei einer Anzeige nachging, reichten heimliche Besuche Erna Sellers im Hause Faulstich aus, um zu ihrer Verhaftung zu führen. Nach den Nürnberger Rassegesetzen war ehelicher und außerehelicher Verkehr zwischen Deutschen und Juden verboten und bei einem Prozess wäre auch Ludwig Faulstich unter Anklage gestanden. Obwohl keiner aus der Familie Faulstich und auch nicht die Haushälterin zu Aussagen zu bewegen waren und die ganze Sache vielleicht im Sande verlaufen wäre, hielt Erna Seller dem Druck nicht stand. In der Nacht vom 12. auf den 13. August 1937 erhängte sie sich in ihrer Gefängniszelle.

Dem Strafverfahren war Ludwig Faulstich wohl entgangen, aber der Niedergang seines Geschäfts war nicht mehr aufzuhalten. Inwieweit die politischen Umstände zum Bankrott beigetragen haben, kann heute nicht mehr rekonstruiert werden. Es mag auch sein, dass der Ludwig der dritten Generation kein solch gewiefter Kaufmann gewesen war wie sein Vater und sein Großvater. 1938 übernimmt einer der Angestellten das Geschäft. Die Familie muss vom großen Geschäfts- und Wohngebäude am Marktplatz in das Häuschen neben dem Blasturm umziehen – heute ist dort das Museum für Vor- und Frühgeschichte untergebracht. Den geschäftlichen Ruin, den Tod seiner guten Freundin Elsa Seller und wohl auch die Hassreden der Gunzenhäuser hat Ludwig Faulstich nur wenige Jahre verkraftet. 1941 nahm er sich das Leben.

Frieda Faulstich war nun ganz auf sich gestellt, die drei Töchter waren aus dem Haus, ihr einziger Sohn Ludwig fiel im Jahr 1944. Mit ihrer Haushälterin, die Rainer Carben liebevoll "Nana" nannte, lebte sie nun auf engstem Raum. Offiziell gehörte das Haus sogar der Haushälterin, sonst hätte man es nicht aus dem Konkurs retten können. Aber das Klavier war da, die Gitarre und das Akkordeon – die Musik. Große Aufführungen gab es nicht mehr, wohl aber noch privaten Musikunterricht.

Einige Geschichten kann Rainer Carben noch von seiner Großmutter erzählen: So sei sie nie mit den Gunzenhäusern in den Luftschutzkeller gegangen. Sie und Nana blieben zu Hause und brachten allenfalls den Töchtern und ihren Familien etwas zu essen vorbei. Gerne hat sie früher die Bar im Café Emmerling besucht – dort war sie die einzige Frau, der Rest der Gunzenhäuser Damenwelt hat sich nicht getraut.

Eine Kämpfernatur mit festen Grundsätzen scheint Frieda Faulstich gewesen zu sein. So hat sie schon mal grundsätzlich nie die Haustür abgesperrt, weshalb im Jahr 1945 ihr Akkordeon gestohlen wurde. Frieda Faulstich hat ihr Lebtag lang nicht selbst gekocht und auch nach dem Tod der Haushälterin hat sie nicht damit angefangen. Ihr Enkel erinnert sich, dass er mittags der Oma Essen bringen musste, abends ging die alte Dame in die Gastwirtschaft.

Rainer Carbens Freunde gingen gern mit ihm die Oma besuchen, saßen dann auf dem Sofa, hörten spritzige Kommentare und ließen sich auch mal aus der Hand oder aus dem Kaffeesatz lesen – noch so ein Hobby von Frieda Faulstich. Der Kirche gegenüber war sie sehr skeptisch eingestellt. Als sie sich den Oberschenkelhals brach und ins Krankenhaus musste, tat sie das nur unter der Bedingung, dass man ihr keinen Pfarrer ans Krankenbett schicken dürfte.

Später war die "Faulstichi" – so nannten sie die Gunzenhäuser – als Kinderschreck verschrien. Doch das hatte seinen Grund auch darin, dass es in der Stadt zum Volkssport geworden war, die alte Frieda zu necken und zu provozieren. Ganz unschuldig mag sie daran nicht gewesen sein, doch die Erwachsenen boten wohl ihren frechen Gören auch keinen Einhalt.

1968 verstarb Frieda Faulstich, die Hänseleien der Jugend, das war in den 1960ern. Von den Verbrechen ihrer Großelterngeneration wussten die jungen Menschen damals fast nichts, denn über die Judenverfolgung in Gunzenhausen, über Mord und Misshandlung wurde nicht gesprochen. Viele Täter waren nie vor Gericht gestellt worden, ihre Verbrechen sollten in Vergessenheit geraten. Doch dass man an der Frieda Faulstich die alten Ressentiments gegenüber allen, die anders sind und anders denken, auslassen durfte, das war auch fast 30 Jahre nachdem die Familie ruiniert worden war, noch nicht aus den Köpfen verschwunden.

Alte Wunden, altes Unrecht. Lange wird es im seltsam warmen Januarsturm nicht brennen, doch ich möchte ihr heute, an ihrem Geburtstag, ein Licht anzünden und auf den Efeu an ihrem Grab stellen. Frieda, verzeih!