Herzogenauracher auf Radtour am "Eisernen Vorhang"

1.10.2014, 09:00 Uhr

Von der Ostsee bis nach Thüringen führte die beiden passionierten Fahrradfans der Weg. Entlang einer Grenze, in der manchmal an die Deutsche Demokratische Republik, an das im anderen Deutschland begangene Unrecht, an Stacheldraht und Todesstreifen erinnert wird, manchmal aber auch keine Spur der einstigen Teilung mehr zu finden ist.

Los ging es im Sommer letzten Jahres. Startpunkt war Ahlbeck auf der Ostseeinsel Usedom — mit Sehenswürdigkeiten wie der Pommerschen Bucht und der „Bernsteinhexe“ — zum Teil über anspruchsvolle Steigungen, die man in Küstennähe nicht unbedingt erwarten würde. „Das Ostseegebiet um Lübeck ist so stark touristisch geprägt, dass man von der einstigen Grenze über viele Kilometer praktisch gar nichts mehr merkt“, erzählt Eberhard Kramer — und empfiehlt als Einstieg in die Materie die mehrbändige Buchreihe „Europa-Radweg ,Eisener Vorhang’“ von Michael Cramer.

Als „Hardware“ für solche Unternehmungen dienten dem Ehepaar stabile Tourenräder, die sich angesichts schlechter Wegstrecken gerade im einstigen Grenzgebiet anbieten, wenn man den großen Ausflug nicht vorzeitig aufgrund technischer Defekte beenden möchte. „Manchmal versank der Weg auch einfach im Matsch“, erinnert sich Solveig Kramer.

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Unübersehbar waren trotz sporadischen Schlechtwetters die — zum Teil bewusst historisch konservierten, zum Teil einfach stehen gebliebenen — Relikte aus über 40 Jahren DDRGeschichte. Beispielsweise diverse „geschleifte Dörfer“: „Da wurden Orte, die aus Sicht der Regierung zu nah an der Grenze zum Westen lagen und dadurch zur Flucht hätten verleiten können, einfach platt gemacht und ihre Bewohner umgesiedelt“, weiß Eberhard Kramer, der jahrzehntelang als Realschullehrer in Herzogenaurach tätig war und später in Erlangen arbeitete.

Bis in die 1980er Jahre hinein zerstörte die Deutsche Demokratische Republik grenznahe Ansiedlungen wie das Dorf Stresow nahe der Hansestadt Salzwedel, um die „Republikflucht“ ihrer Bürger zu verhindern — und konnte die Wende im November 1989, vor genau einem Vierteljahrhundert, doch nicht aufhalten.

Heute erinnert am ehemaligen „Todesstreifen“ stehen gelassenes oder nachgebautes „Grenz-Zubehör“ wie Tore und Stacheldrahtzäune an die Epoche der deutschen Teilung. Gedenksteine wurden jenen gewidmet, die im Kugelhagel der Grenzposten ihr Leben ließen.

Freilich sahen und erlebten die Kramers auf ihren einige Hundert Kilometer langen, mehrwöchigen Radtouren entlang der einstigen „Zonengrenze“ auch Positives, was sich nicht zuletzt in ungezählten Reisebildern aus deutschen Landstrichen beiderseits der Grenze widerspiegelt. Kleine Pensionen mit liebevoll gestaltetem „Puppenstuben“-Interieur. Oder Schrebergarten-Kolonien, die den Grenzstreifen förmlich überwuchern und damit vergessen machen.

80 bis 90 Kilometer am Tag legten die Kramers je nach Wetter und persönlicher Kondition zurück, wohnten in Dönitz im „Märchenzimmer“ und lichteten sich auf dem windumtosten Brocken im Harz ab, wo sie auch die schon zu DDR-Zeiten über die Grenzen hinaus bekannte Schmalspurbahn mit Dampfbetrieb nutzten.

Was den Radwanderern bisweilen fehlte, war eine vernünftige Beschilderung des deutsch-deutschen Radweges. „Ein paar Mal haben wir uns böse verfahren und standen plötzlich bei strömendem Regen mitten im Wald“, berichtet Solveig Kramer, die über solche Erlebnisse im Rückblick schon wieder schmunzeln kann. Ebenso, wie über den „schrägen Vogel“, der mit einem Beiwagenmotorrad der DDR-Marke „MZ“ auftauchte, auf dem Beifahrersitz eine Farbigen-Puppe sitzen hatte und krause Geschichten aus sozialistischen Tagen zu erzählen wusste.

Nicht immer gelingt eine humorvolle Rückschau. Zu menschenverachtend, zu inhuman war, was bei der Reise zwischen den beiden deutschen Staaten oftmals geschah. So besichtigten die Kramers unter anderem den berüchtigten Bahn-Grenzhaltepunkt Marienborn, wo auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges ein DB-Zug mit darin versteckten DDR-Flüchtlingen tagelang aufgehalten wurde.

Auch die Geschichte vor 1945 ist bei der Radtour allgegenwärtig, sei es in Form eines „Preußen“-Emailschildes und einer Gedenkplakette für den „Eisernen Kanzler“ Otto von Bismarck oder in Gestalt der Burg Lauenstein in Thüringen, der Verbannungsort des gestürzten Nazi-Geheimdienstchefs Wilhelm Canaris war.

Akribisch geführtes Tagebuch

Wenn man das von den Kramers akribisch — mit Kilometerangaben und Routenbeschreibung — geführte Reisetagebuch studiert, stellt man fest, dass sich das Preisniveau „hüben und drüben“ hinsichtlich der Hotel- beziehungsweise Pensions-Übernachtungspreise ganz offensichtlich angeglichen hat.

Als es im thüringischen Eisenbahn-Knotenpunkt Probstzella heftig zu regnen beginnt, bricht das Ehepaar seine Tour 40 Kilometer vor dem eigentlichen Etappenziel ab und reist mit dem Zug nach Hause. Was nach insgesamt 1540 Kilometern zwischen Ahlbeck und Probstzella auch erlaubt sein muss. Und der Leistung keinen Abbruch tut.