"Jeder, der eine weiße Fahne hisst, wird aufgeknüpft"

14.4.2020, 06:10 Uhr

Nach einer Kurzausbildung an Panzerfaust, Maschinengewehr oder Karabiner sollten die teilweise bis zu 65 Jahre alten Mitglieder des Volkssturms in die Schlacht ziehen. Viele Nürnberger entzogen sich dem. © Heinrich/NN-Archiv

Am 6. April 1945 nahmen die Amerikaner nach harten Gefechten Würzburg ein. Ihre Divisionen standen nur noch rund 150 Kilometer von Nürnberg entfernt. Einen Tag später erklärte die Wehrmacht die "Stadt der Reichsparteitage" zum "rückwärtigen Operationsgebiet" und forderte nichtberufstätige Frauen, Kinder und Alte auf, sicherheitshalber zu verschwinden. Die Noris war allerdings nicht darauf vorbereitet, Frontstadt zu werden.

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte es keinerlei Anstrengungen gegeben, sie gegen Bodentruppen in den Verteidigungszustand zu versetzen. Die Frage, ob Nürnberg zur "Festung" erklärt werde, die erbitterten Widerstand leisten muss, oder zur "offenen Stadt", die den US-Divisionen kampflos übergeben werden kann, sorgte für heftige Auseinandersetzungen zwischen Oberbürgermeister Willy Liebel und dem stellvertretenden Gauleiter Karl Holz. Beide verband seit Beginn der nationalsozialistischen Diktatur eine innige persönliche Abneigung.

Liebel, 1933 von der NSDAP illegal ins Amt gehievt und 1942 zum Chef des Zentralamts in Albert Speers Rüstungsministerium aufgestiegen, war Anfang des Jahres 1945 aus Berlin zurückgekehrt und hatte am 26. Februar seine Verpflichtungen als Leiter der Stadtverwaltung wieder aufgenommen. Die Nürnberger sahen in ihm – im Gegensatz zum brutal-fanatischen Durchhalte-Politiker Holz – einen "gemäßigten" und "vernünftigen" Nazi, das geringere Übel eben.

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Am 21. März berief der OB die erste und zugleich letzte Sitzung des braunen Stadtrats im Jahr 1945 ein. Weil das Rathaus in Trümmern lag, trafen sich die Kommunalpolitiker in der Turnhalle des Schulhauses am Bielingplatz. Liebel habe, so kolportierte man auf der Straße, "den nicht sehr zahlreich und fast durchweg in schlichtem Zivil erschienenen 'Ratsherren' ein sehr düsteres Zukunftsbild entwickelt und deutlich zum Ausdruck gebracht (...), er werde die zu erwartende Verteidigung Nürnbergs ablehnen. Man dürfte die kleinen Reste, die von der alten Noris übrig sind, nicht auch noch der Zerstörung preisgeben", so der Chronist Fritz Nadler in seinen Tagebucheinträgen.

Holz dagegen hatte am 12. April vor der letzten NSDAP-Versammlung in Nürnberg noch einmal die hohlen Phrasen vom Endsieg und der bedingungslosen Treue zum Führer gedroschen. "Ich bin Reichsverteidigungskommissar und nicht Reichsunterwerfungskommissar", verkündete er. Unter der Überschrift "Für die Ehre und Freiheit zu kämpfen, ist niemals eine aussichtslose Sache" berichtete die in Altdorf gedruckte letzte Nummer der Fränkischen Tageszeitung vom 14./15. April über den Appell des stellvertretenden Gauleiters an die Bevölkerung, entschlossen Widerstand zu leisten.

"Wer eine weiße Fahne hisst, wird aufgeknüpft"

Weil er aber offenbar selbst nicht an die Wirksamkeit seiner Worte glaubte, ließ er in der gleichen Ausgabe die Warnung folgen, jeder Verräter, der eine weiße Fahne hisst, sei dem Tode verfallen und werde aufgeknüpft, jedes Haus, an dem weiße Fahnen hängen, werde gesprengt oder niedergebrannt. Seiner kompromisslosen Haltung begegneten selbst hochrangige Angehörige der Wehrmacht mit einigem Unverständnis.

So ist überliefert, dass der Infanterie-General Friedrich Schulz, Oberbefehlshaber der Heeresgruppe "G", auf Holz' Frage, er werde doch wohl Nürnberg verteidigen, antwortete: "Ich kämpfe vor oder hinter Nürnberg – aber nicht um Nürnberg." Patzig habe Holz entgegnet: "Wenn Sie nicht um Nürnberg kämpfen wollen, dann werde ich es tun." Worauf Schulz geantwortet haben soll: "Wenn Sie es vor Ihrem Gewissen verantworten können, mit Volkssturm und Hitlerjugend um Nürnberg zu kämpfen, kann ich es leider nicht verhindern."

Auch die Hitlerjugend - hier bei einem Appell mit Gasmasken - wurde einberufen. © NN-Archiv

Auch General Karl Weisenberger, der Kommandant des Wehrkreises XIII, zu dem die Stadt gehörte, hielt Holz' Vorhaben strategisch für unsinnig. All diesen Querelen bereitete ein Befehl des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW) am 12. April ein jähes Ende. Darin hieß es: "Städte liegen an wichtigen Verkehrsknotenpunkten. Sie müssen daher bis zum Äußersten verteidigt und gehalten werden, ohne jede Rücksicht auf Versprechungen und Drohungen, die durch Parlamentäre oder feindliche Rundfunksendungen überbracht werden. Für die Befolgung dieses Befehls sind die in jeder Stadt ernannten Kampfkommandanten persönlich verantwortlich. Handeln sie dieser soldatischen Pflicht zuwider, (...) so werden sie zum Tode verurteilt."

Bis zu 65 Jahre alte Volkssturm-Mitglieder mussten in den Kampf

Gezeichnet war das Dokument von OKW-Chef Wilhelm Keitel, Reichsführer-SS Heinrich Himmler und dem Leiter der Parteikanzlei, Martin Bormann. Schon bald klebten Plakate mit dieser Direktive an jeder Litfaßsäule, an Ruinenmauern, noch intakten Haustüren und Gartenzäunen. Oberbürgermeister Willy Liebel fügte sich ins Unvermeidliche, Karl Holz bekam Oberwasser. Schon am 13. April berief er den Volkssturm ein. Jeder nicht Wehrdienst leistende Mann zwischen 16 und 60 Jahren, teilweise bis zu 65 Jahren, hatte sich bei seiner NSDAP-Ortsgruppe zu melden. Doch es kamen bei weitem nicht alle, kaum eine Kompanie war vollständig. Viele kriegsmüde Nürnberger verkrochen sich lieber, als in den letzten Tagen noch Leib und Leben zu riskieren.

An wichtigen Einfallsstraßen ließ Holz aus Steinen, Dachbalken, Baumstämmen, Schienen, Straßenbahnwagen und Fahrzeugwracks Panzersperren errichten, die so dilettantisch waren, dass – wie Nadler schrieb – Zivilisten über "das sinnlose Getue" nur lachten. Mitglieder der Hitlerjugend schwärmten aus, um 16-Jährige daheim abzuholen. Doch nicht selten trafen sie dabei auf energische Mütter. "Die Frauen zeigen oft mehr Mut als die Männer", notierte der Zeitzeuge Fritz Nadler in seinem Tagebuch. "Sie stellen sich vor ihre Buben und sagen es den HJlern, die ungewollt Schergendienste leisten müssen, dass sie keine Lust haben, ihre Kinder als Kanonenfutter verheizen zu lassen."

Allenfalls 200 bis 300 Hitlerjungen rückten aus, um die Sherman-Tanks der US-Streitkräfte mit Panzerfäusten zu stoppen. Die Generalmobilmachung des stellvertretenden Gauleiters war ein Schlag ins Wasser. Am Spätnachmittag des 15. April, gegen 17 Uhr, traf der vom Oberkommando des Heeres ernannte neue Kampfkommandant in Nürnberg ein. Oberst Richard Wolf, Stalingrad-Veteran und Ritterkreuzträger, hatte kurz vorher in Würzburg versucht, einen "Zentimeterkrieg" Stein um Stein zu führen und die Amerikaner zurückzuwerfen - allerdings erfolglos.

Rechtzeitig vor der Eroberung der Stadt hatte er sich mit dem Rest seiner Kampftruppe abgesetzt und nach Wallerstein begeben. Von dort aus hatte man ihn in die Noris geschickt. Wolf war zwar ein erfahrener Frontoffizier, verfügte aber über keinerlei Ortskenntnis, geschweige denn ausreichend Soldaten, um sich gegen drei bestens gerüstete US-Divisionen zu behaupten. Noch am Abend suchte er den stellvertretenden Gauleiter Holz auf und zeigte ihm die Order, mit der er zum Kommandanten bestellt worden war.

Nur eine kleine braune Clique gab Nürnberg nicht auf

"Zunächst herrschte eine starke Reserviertheit vor", schilderte Wolf zehn Jahre nach Kriegsende die Begegnung. "Es war, als wolle man sich gegenseitig abtasten, um festzustellen, wen man vor sich habe. Ich betonte, dass ich der militärische Befehlshaber der Stadt sei und die Verantwortung zu tragen habe. Das sei aber nur möglich, wenn alle Befehle nur vom Kampfkommandanten gegeben würden." Holz, wiewohl wahrscheinlich überrascht, ordnete sich unter. Bis zum bitteren Ende arbeitete er gehorsam mit seinem neuen "Chef" zusammen.

Unterdessen strandeten täglich deutsche Landser in den Vororten Nürnbergs, Versprengte, Flüchtende, Verwundete – traurige Gestalten in verdreckten Uniformen, die das Kämpfen satthatten. "Im nördlichen Reichswald trifft man in diesen turbulenten Tagen überall Männer aller Altersklassen", registrierte Nadler. "Gestern waren sie noch Soldaten. Heute sind sie Zivilisten. Dank der Unterstützung von Bauern im Knoblauchsland, die alte Hosen und schäbige Kittel gegen einen Waffenrock hergaben, gelang diese Verwandlung." Für sie war der Krieg bereits aus. Nur eine kleine braune Clique in der Stadt wollte den militärischen Zusammenbruch nicht wahrhaben.