Umstrittenem Koloss geht es an den Kragen

23.3.2020, 19:32 Uhr

"A rechds Drum" ist es schon, das sich da über der Nordseite des Rathenauplatzes auftürmt! Dabei hat Wilhelm Schlegtendal, der den Neubau der Oberpostdirektion (OPD) plante und 1969 bis 1972 leitete, durchaus bedacht, dass ein zu voluminöser Baukörper an dieser Stelle alles in der Umgebung optisch geradezu erschlagen würde. Deshalb platzierte er zum Platz hin einen lediglich zweieinhalbgeschossigen Flügel, der gleich einer Stufe zu den höheren Bauten weiter nördlich überleiten sollte. Dennoch, allein durch die schiere Flächenausdehnung des niedrigen Südflügels, die Höhe und vor allem die Breite des neungeschossigen Scheibenhochhauses dahinter wirkt der Komplex ein wenig, man möchte sagen, monströs.

Letzten Endes war der Neubau der Oberpostdirektion die konsequente Fortschreibung eines Pfades, den bereits die Bauherrn und Planer Ende des 19. Jahrhunderts und die Väter des Wiederaufbaus ab 1945 am Rathenauplatz beschritten hatten: hin zu immer gewaltigeren, repräsentativen Bauten in der Formgebung der jeweiligen Zeit.

In diesem Duktus soll es auch weitergehen: Nachdem die Bundespost und nach ihr die Telekom den OPD-Komplex verlassen hatten, erwarb die Evangelische Landeskirche 2015 den Verwaltungskoloss und vermietete ihn an die AOK Bayern. Nach Umbau und Modernisierung – der dazu ausgelobte Architekturwettbewerb ist längst beendet – will die Kirche hier ab 2023 verschiedene Bildungsangebote bündeln (die NZ berichtete). Damit folgt sie demselben Gedankengang wie dereinst die Nürnberger Oberpostdirektion, die es leid war, ihren Betrieb auf 18 unterschiedliche Liegenschaften aufteilen zu müssen.

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Lange Traditionskette

Jetzt, da geklärt wäre, was ist und was (vielleicht) sein wird, ist die Frage interessant, was hier einmal war, vor dem gewaltigen Neubau. Die ernüchternde Antwort: am Ende des Zweiten Weltkrieges nicht viel mehr als "ein Staubhaufen", wie ein Augenzeuge berichtete. Eine Luftmine, die die Royal Air Force am 2. Januar 1945 abgeworfen hatte, hatte das Café Wanner (Rathenauplatz 21) förmlich zerrissen.

Ähnlich wie die Oberpostdirektion thronte schon das Café Wanner, das sehr gut in eine der liebevoll ausgestatteten britischen Verfilmungen von Agatha Christies Hercule Poirot gepasst hätte, bei seiner Vollendung 1931 wie ein Krönchen über dem Rathenauplatz. Architekt Ludwig Ruff tat sich bei diesem Entwurf – man glaubt es kaum angesichts seiner Pläne für die Kongresshalle am Dutzendteich – als Vertreter der Neuen Sachlichkeit hervor. Er gestaltete das Café als in den Hang gesetzten, verputzten Flachbau mit großen Panoramafenstern und einer von außen begehbaren Dachterrasse mit Attikageschoss. Letzteres erhielt – wohl aus Rücksicht auf die unmittelbar benachbarte Altstadt – ein im wahrsten Sinne des Wortes aufgesetzt wirkendes steiles Walmdach und traditionelle Fensterläden. In Richtung Bayreuther Straße schloss sich ein großer Biergarten mit hohen, alten Laubbäumen an.

Das Café Wanner hatte 1930 seinerseits einen Vorgängerbau ersetzt: ein großzügiges Gebäude im Stil des Klassizismus, das zuletzt neben zwei Wohneinheiten eine Polizeiwache beherbergt hatte. Bis zu dessen Bau 1852 wiederum hatte sich vorne an der Bayreuther Straße das Wohnhaus eines Gartenanwesens befunden, das sich schon auf dem Vogelschauplan des Hieronymus Braun von 1608 nachweisen lässt. Ebenfalls ein Raub der Fliegerbomben wurden die beiden Villen, die bis 1945 westlich des Café Wanner standen: Das Haus Rathenauplatz 19 hatten der Praktische Arzt und Gemeindebevollmächtigte Ludwig Schobig und seine Gattin Margaretha Friederika 1864 für sich und ihre Familie im damals beliebten Maximilianstil mit Elementen des Klassizismus und der Frührenaissance erbauen lassen. Nachdem die Schobigs einen Teil ihres Besitzes am Maxtorgraben an den Kohlen- und Kokshändler Julius Marlier abgetreten hatten, ließ sich dieser 1897 bis 1898 dort vom Architekturbüro Ochsenmayer & Wißmüller sein prunkvolles Domizil in Formen der Neorenaissance erbauen.

Sie sehen: Die Oberpostdirektion, so gewöhnungsbedürftig sie manch einer empfinden mag, steht in einer langen Traditionskette. Es bleibt zu hoffen, dass die Evangelische Kirche und ihre Architekten sie in würdiger Weise weiterführen werden.

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