„Wenn er hereinkommt, dann geht die Sonne auf“

9.4.2016, 13:01 Uhr

REDNITZHEMBACH — Susanne Philipp macht aus ihren anfänglichen Bedenken keinen Hehl: „Wir haben Neuland betreten. Das war ein Stückweit ein Wagnis.“ Trotzdem haben sie und ihr Ehemann Karl-Heinz den Schritt bis heute nicht bereut. Denn am Ende hatte die Überzeugung den Ausschlag gegeben: „Da müssen wir helfen.“ Und inzwischen empfindet Susanne Philipp nur noch Glück. „Wenn Jamal (Name von der Redaktion geändert) die Treppe herunterkommt, geht die Sonne auf“, erzählt die 52-Jährige.

Jamal – das ist ein 17 Jahre alter afghanischer Flüchtling. Nach monatelanger Flucht war der junge Mann im April 2015 nach Nürnberg gelangt – der Bruder tot, die Eltern seit seiner Flucht aus dem vom Bürgerkrieg zerrütteten Land vermisst. Seit vergangenem Herbst sind Karl-Heinz und Susanne Philipp seine neue Familie. Das in Rednitzhembach lebende Ehepaar hat Jamal als Pflegekind aufgenommen. Dabei haben die Philipps schon drei leibliche Kinder. Zwei sind allerdings schon aus dem Haus.

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Viel hatte Jamal von Deutschland nicht gewusst, als er im November 2014 aus Afghanistan floh. Aber ein Freund seines Vaters sei der Meinung gewesen, Deutschland sei ein gutes Land. In Nürnberg vom Jugendamt vor die Wahl gestellt, in einem Heim oder einer Wohngruppe oder eben bei Pflegeeltern unterzukommen, musste Jamal nicht lange nachdenken: „Bei Pflegeeltern, da lerne ich viel schneller Deutsch. Im Heim bin ich wieder nur unter Afghanen“, erzählt er in ganz passablem Deutsch.

In der Rednitzhembacher Mittelschule besucht er inzwischen die neunte Klasse. Verkäufer will er einmal werden. Seine Lieblingsfächer sind Deutsch und Sport. In seiner Freizeit kickt er in der B-Jugend des SV Rednitzhembach. Schon in Afghanistan habe er viel Sport getrieben – meist aber nur im Garten seines Elternhauses. „Denn das Haus zu verlassen, war gefährlich. Überall lauerten die Taliban“, erzählt der aus der Provinz Wardak stammende Afghane.

In seiner neuen Familie fühlt sich der in schwarz-weißem Batik-T-Shirt gekleidete junge Mann sichtlich wohl. „Mit meinen neuen Eltern“, so versichert Jamal immer wieder voller Dankbarkeit, „habe ich keine Probleme“. Und auch für die beiden Pflegeeltern war nach einigen gemeinsamen Probe-Wochenenden klar: „Die Chemie stimmt. Das passt“. Daran habe sich auch nach Monaten nichts geändert, versichert der 57-Jährige Pflegevater.

Dass man sich mit einem Moslem als neuem Familienmitglied auf manche Einschränkung habe einstellen müssen, das war Karl-Heinz Philipp freilich von Anfang an klar. Auf den Tisch im verglasten Wintergarten des Vorstadt-Reihenhauses kommt afghanisch-fränkische Küche mit viel Reis und Gemüse.

So bestand das Weihnachtsmenü der Familie aus afghanischem Hühnchen mit sauren fränkischen Bratwürsten. Dass das Hähnchen „halal“, also nach islamischen Glaubensvorschriften geschlachtet sein musste, machte die Vorbereitung des Weihnachtsessens nicht gerade einfacher. „Das bekamen wir nur in einem speziellen Laden in Nürnberg“, erzählt Karl-Heinz Philipp.

Klar sei manches etwas komplizierter. Dafür habe die Familie viel gelernt. „Wir sitzen oft zusammen. Dabei erzählt uns Jamal von seinem früheren Leben“, berichtet Susanne Philipp.

Selten Heimweh

Wenn es darum geht, etwa die afghanische Art des Brotbackens zu erklären, hilft auch schon mal das Internet-Videoportal Youtube. „Das Brot, das meine Mutter gebacken hat, war köstlich“, schwärmt er.

Heimweh habe er dennoch nur selten, versichert Jamal. „Ich habe dort eh niemanden mehr.“ Richtig traurig werde er, wenn er in den TV-Nachrichten Bilder von Anschlägen in Afghanistan sieht. „Jeden Tag dieser Terror und die ganzen Menschen, die dabei sterben“, sagt Jamal mit stockender Stimme.

Nach Angaben der Diakonie Rummelsberg, die auch Jamal betreut und vermittelt hat, ist die Unterbringung junger Flüchtlinge in einer deutschen Pflegefamilie eher die Ausnahme. Nicht viele Familien seien dazu bereit. „Einen 15 oder 16 Jahre alten Syrer oder Afghanen in die Familie aufzunehmen, ist schon was Besonderes“, räumt Elisabeth Schröder ein. Sie ist in der Nürnberger Clearingstelle der Rummelsberger Diakonie für die Erstversorgung der unbegleiteten jungen Flüchtlinge zuständig.

Nicht für alle passend

Manche Jugendliche hätten an einer Unterbringung bei Pflegeeltern auch gar kein Interesse. „Viele haben ja noch ihre leiblichen Eltern in ihrer Heimat oder irgendwo in Europa. Andere sehen allerdings im Leben in einer deutschen Familie auch eine große Chance“, berichtet Schröder. Die meisten unbegleiteten jungen Flüchtlinge seien in Heimen und Wohngruppen mit bis zu zehn Mitgliedern untergebracht.

Allein im Jahr 2015 hat die Rummelsberger Diakonie 15 solche Flüchtlings-WGs neu geschaffen. „Das war für uns schon ein großer Kraftakt.“KLAUS TSCHARNKE, dpa

Derzeit sind mehr als 15 500 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Bayern untergebracht. Sie werden wie erwachsene Asylbewerber nach einem festen Schlüssel auf die Bundesländer verteilt. Bundesweit gab es Mitte Februar 68 590 junge Flüchtlinge, die entweder ihre Eltern verloren oder sie in der Heimat zurückgelassen haben.Von den jungen Migranten stammt fast die Hälfte aus Afghanistan, 17,5 Prozent aus Syrien, 10 Prozent aus Eritrea und 7,5 Prozent aus Somalia. Zuständig für sie sind die Jugendämter in den Städten oder – wie im Rednitzhembacher Fall – in den Landkreisen. Im Rahmen eines Clearingverfahrens stellen Fachleute zunächst fest, welche Art von Hilfe der Jugendliche braucht und wo er untergebracht werden kann. dpa