USA stärkten Gotteskrieger

Der Friedhof der Weltreiche: Afghanistans leidvolle Geschichte

8.9.2021, 10:44 Uhr

Flucht aus Afghanistan. © Sgt. Samuel Ruiz/U.S. Marine via www.imago-images.de, imago images/ZUMA Wire

Der Schnee leis stäubend vom Himmel fällt, / Ein Reiter vor Dschellalabad hält, / "Wer da?" – "Ein britischer Reitersmann,/ Bringe Botschaft aus Afghanistan."/ Afghanistan! Er sprach es so matt".
So beginnt eine Ballade von Theodor Fontane, dem politisch stets wachen, teils in preußischen Diensten stehenden und daher nach Großbritannien entsandten Schriftsteller aus der Mark Brandenburg. 1859 bilanzierte er da den ersten britisch-afghanischen Krieg. So geht der Bericht des britischen Reitersmanns weiter: "Von Kabul unser Zug begann, / Soldaten, Führer, Weib und Kind, / Erstarrt, erschlagen, verraten sind. / Zersprengt ist unser ganzes Heer."

Und so endet das Gedicht: "Mit dreizehntausend der Zug begann, / Einer kam heim aus Afghanistan."

Die Ballade heißt "Das Trauerspiel von Afghanistan" – und das wäre auch eine passende Überschrift für die gesamte Geschichte dieses Landes. Werfen wir einen schlaglichtartigen Blick auf diese konfliktreiche Historie.

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In der Antike gehörte die Region zum Perserreich. Damals hieß es Ariana, dann Khorossan, später wieder Ariana. Alexander der Große besiegte um 330 vor Christus die Perser und eroberte auch das heutige Afghanistan.

Die folgende Geschichte, ganz knapp im Zeitraffer zusammengefasst: Langsam fasst der Islam in den überwiegend bergigen, von Stämmen geprägten Regionen des Landes Fuß. Auch damals war das Territorium umkämpft und lag im Brennpunkt konkurrierender Mächte – der Perser im Westen, des indischen Mogulreiches im Osten und der usbekischen Scheibaniden im Norden.

Erst der Aufstieg der auch heute noch in Afghanistan dominierenden Paschtunen führte Mitte des 18. Jahrhunderts zur Bildung eines Staatswesens, es gilt als Vorläufer des späteren Staates Afghanistan: Ahmad Schah Durrani gründete 1747 das eigenständige paschtunische Königreich. Doch es fiel auseinander – wegen innerer Konflikte und, wieder einmal, Interventionen von außen. Der Name "Afghanistan" wurde erst im 19. Jahrhundert eingeführt, seit 1919 galt er auch als Staatsname.

Ein Name, der damals zusehends häufig in den Nachrichten und Zeitungen auftauchte. Denn Afghanistan wurde zu einer Spielfläche innerhalb eines jahrzehntelangen Machtkampfs zwischen der aufstrebenden Großmacht Russland und der längst etablierten Weltmacht Großbritannien, der unter dem zynischen Namen "Great Game", großes Spiel, in die Geschichtsbücher einging.

Es war die Zeit der imperialen Expansion – und umkämpft war da auch Zentralasien. Russland wollte zum Indischen Ozean, um einen eisfreien Hafen zu erobern. Und traf da auf die Interessenssphäre der Briten als indische Kolonialherren.

Im Zuge dieses Konflikts kam es zwischen 1839 und 1919 zu drei anglo-afghanischen Kriegen. Der erste endete so, wie es Theodor Fontane in seiner Ballade beschrieb.

"Blas dir das Gehirn raus"

Szene aus dem ersten britisch-afghanischen Krieg (1839-42): Britische Truppen am Bolan-Pass im Süden Afghanistans.   © imago images/Photo12

Er erzählte eine wahre, für die Briten bittere Geschichte: 12 000 Zivilisten und gut 4000 Soldaten mussten am 6. Januar 1842 den Rückzug aus Kabul antreten – die Hauptstadt Afghanistans war nach einer Revolte der Einheimischen gegen die britischen Besatzer nicht mehr zu halten. Zu Fuß marschierten die aus Kabul Vertriebenen Richtung Dschalalabad.

Immer wieder wurde der Tross trotz eines vereinbarten freien Geleits von afghanischen Rebellen attackiert. Am 8. Januar kam es in bitterer Kälte am Khyber-Pass zu einem Massaker, rund 3000 Männer, Frauen und Kinder starben. Eine Woche später kamen die verbliebenen Fliehenden bei einer Schlacht bei Gadamak ums Leben oder wurden gefangengenommen.

Angeblich erreichte nur ein einziger Europäer, der junge Militärarzt William Brydon, Dschalalabad, um die Nachricht der bitteren (und ersten) britischen Niederlage in einem Kolonialkrieg zu überbringen. Ganz so war es nicht; es gab weitere Überlebende – aber das Debakel für die Besatzungsmacht war enorm. Schon damals zeigte sich, wie schwer es ist, diesem von Stämmen geprägten, nur staatsähnlichen Gebilde ein fremdes Regime überzustülpen.

Und wie massiv sich die Bewohner der umkämpften Region gegen die Eindringlinge wehrten. Davon berichtete auch der britische Autor Rudyard Kipling ("Das Dschungelbuch") in seinem 1895 entstandenen Gedicht über den "Young British Soldier".

Die Ballade, eine Empfehlung eines erfahrenen Offiziers an einen jungen britischen Soldaten, endet mit dieser Strophe: "When you’re wounded and left on Afghanistan’s plains,/ And the women come out to cut up what remains,/ Jest roll to your rifle and blow out your brains." Übersetzt: "Wenn du verwundet wirst und auf Afghanistans Ebenen zurückgelassen wirst und dann die Frauen kommen, um aufzuschneiden, was übriggeblieben ist, dann kriech zu deinem Gewehr und blas dir das Gehirn raus."

Das lässt ziemlich drastisch erahnen, wie grausam die Rache der Afghanen und auch Afghaninnen an möglichen Eroberern ausfallen kann. "Der Krieg ist für sie ein erregendes Erlebnis und eine Abwechslung von der monotonen Erwerbsarbeit", schrieb Friedrich Engels 1857 über die stete Kampfbereitschaft der permanent bedrängten Afghanen.

Schieben wir angesichts von so viel Blut und Gewalt eine eher vergnügliche Episode ein: die vom Kriegsreporter Wippchen, der komplett frei erfundene Berichte von einer Front schrieb, an der er selbst nie war. Wippchen war ein Geschöpf des Autors Julius von Stettenheim, der sich einen Spaß daraus machte, die Gier nach authentischen Reportagen von Schlachtfeldern auf die Schippe zu nehmen. Da entstand eine bitterböse wie absurd-groteske Satire auf die Schludrigkeiten eines Journalismus, der mitten drin sein will im Geschehen.

Ein kleines Beispiel: Wippchen schreibt da (übrigens von Bernau bei Berlin aus) als Reaktion auf eine Beschwerde seiner Redaktion, wo denn die Berichte von der Front blieben: "Daß der afghanische Krieg begonnen hat, erfuhr ich bereits vorgestern in der gutunterrichteten Bahnhofsrestauration. Sofort entwarf ich einen Kiepert (Anmerkung der Red.: eine Karte) von Afghanistan, welcher bekanntlich in keinem Weltblatt fehlen darf. Ich habe sämmtliche Städte, Flüsse, Berge und Pässe, welche mir einfielen, so placirt, daß die Druckerei die Namen bequem setzen kann, und das ist doch wohl die Hauptsache. . . . Den Pandschab schied ich durch den Indus scharf von Afghanistan. Das Hindukusch-Gebirge legte ich so, daß es absolut nicht im Wege steht."

Später tut Wippchen dann so, als berichte er direkt vom berühmt-berüchtigten Khyber-Pass, einem oft von Truppen überquerten Weg. Selbst in Berliner Salons und Redaktionsstuben war dieser Pass legendär – auch wegen Wippchen, den der große Kabarettist Dieter Hildebrandt wiederentdeckte.
"Up the Khyber" – das steht übrigens heute noch im Soldaten-Englisch für eine hoffnungslose Sache und für einen Kampf, der nicht zu gewinnen ist. Der Khyber-Pass zwischen dem heutigen Pakistan und Afghanistan war das Symbol der Unüberwindbarkeit dieses Territoriums, das zu Recht als "Graveyard of the Empires", als Friedhof der Weltmächte, galt und gilt.

Diese Erfahrung machten auch die Herren des Kreml, als sie – nach einigen relativ stabilen, teils liberal geprägten Jahren in Afghanistan unter König Sahir Schah – dort an Weihnachten 1979 einmarschierten.

Sowjets bissen sich die Zähne aus

Die Invasion war nach Einschätzung von Experten der Anfang vom Ende des Sowjet-Imperiums. Denn bald geschah erneut das, was früher die Briten blutig erfahren mussten: Die eigentlich zerstrittenen Volksgruppen des Landes bekämpften gemeinsam und mit einer sehr wirksamen Guerilla-Strategie den Feind von außen. Moskau erlebte, wie nun die Alliierten, eine Art Vietnam.
Der Rest der Geschichte ist aktuell erlebbar: Die USA taten, was in solchen Fällen während des Kalten Krieges üblich war – sie rüsteten den Feind ihres Feindes auf, in diesem Falle die afghanischen "Mudschahidin" gegen die UdSSR.

Die bekämpften erst die sowjetischen Truppen und nach deren Abzug die aus Pakistan eindringenden, radikaleren Taliban. Vergeblich – die Islamisten übernahmen die Macht. Und die kommenden Konflikte zeichneten sich ab. Der russische Veteran Alexej Tukalkin sagte: "Man kann in Afghanistan nicht siegen, das werden auch die Amerikaner und die Deutschen einsehen müssen.

Man kann sich nur zurückziehen, die Grenzen abriegeln und hoffen, dass die Afghanen zur Besinnung kommen." Ein bitteres Fazit. Bestimmt wäre es hilfreich, wenn Groß- und Regionalmächte nicht länger ihr "Great Game" auf dem Rücken eines geschundenen Landes austragen würden.


Alexander Jungkunz, NN-Chefredakteur: Meine Politisierung hat auch mit dem Einmarsch der Sowjets in Afghanistan 1979 zu tun – für meine Generation so etwas wie die Zerschlagung des Prager Frühlings. Ein Schock im Kalten Krieg. Und ein Blick weiter zurück in die Historie Afghanistans zeigt: Geschichte wiederholt sich leider doch. Man könnte daraus lernen.