Kommentar: Ohne den Exzess macht Silvester keinen Spaß

2.1.2021, 06:00 Uhr

Gut so! Das war meine erste Reaktion auf dieses durch und durch ungewöhnliche Silvester-„Fest“ nach diesem durch und durch ungewöhnlichen Jahr 2020.

Werbung
Werbung

Gut so, dass Kleinkinder, Haustiere und ruhebedürftige Zeitgenossen nicht mit stundenlanger Böllerei um ihren Schlaf gebracht wurden. Gut so, dass ohnehin überlastetes Krankenhauspersonal mit deutlich weniger Feuerwerksverletzungen, schief gelaufenen Drogenexzessen und alkoholisierten Prügelopfern von der wichtigeren Arbeit abgehalten wurde. Gut so, dass Sör und anderen Abfallentsorgern allerorts das Säubern zugemüllter Straßen, Wege und Parks leichter gefallen ist als nach einem "normalen" Silvester. Und gut so, dass der massiven Luftverschmutzung und Geldverschwendung von diesem eigentlich so hassenswerten Virus Einhalt geboten wurde.

Ich hatte mich ohnehin seit Jahren mit Grauen abgewandt von diesem Jahreswechsel-Ritual mit all seinen abstoßenden Nebenerscheinungen.

Aber dann fiel mir ein, wie das früher war, mit 19 Jahren oder mit 22. Da war Silvester keine weitere schlechte Ausrede, sich zu betrinken, sondern die Nacht des Jahres. Eine Nacht, in der alles passieren konnte. In der man wildfremde Menschen umarmte, mit all seinen Freundinnen und Freunden feierte, in der man lustige Begegnungen hatte und von Böllerschlägen und Raketenschweifen ausgelöstes Adrenalin durch den Körper pumpte, zusammen mit anderen zum Feiern gehörigen Substanzen. Ja, auch der Kontrollverlust wurde zelebriert. Ich versetzte mich in den Kopf meines 19-jährigen Ichs: Was für ein erbärmliches Jahresende wäre das diesmal für mich gewesen!



Das gilt, genau besehen, nicht nur für die Jugend, die in diesem Jahr zwar kaum an den direkten Folgen der Pandemie, wohl aber unter den vielen Einschränkungen zu leiden hatte. Auch für Erwachsene ist Silvester schließlich das Gegenstück zu Weihnachten. Hier steht eher der Freundeskreis im Vordergrund als die Familie, nicht das innehalten und zuhause bleiben, sondern das rausgehen und über die Stränge schlagen.

Weihnachten im Kreise des Haushalts zu feiern, das widerspricht nicht der inneren Logik dieses Fest. Aber Silvester als zweiter feierlicher Abend zuhause, mit Familie, Raclette und ein bisschen Perlwein, eine Woche nachdem man an Weihnachten genau das Gleiche getan hat? Das steht im radikalen Gegensatz zum eigentlichen Konzept von Silvester.



Zahlreiche Menschen wählten prompt den Fernseher als Begleiter ins Jahr 2021. Ich zappte selbst vor Mitternacht ein halbes Stündchen im Programm herum. Es war ein Trauerspiel. Da stand Andrea Kiewel fürs ZDF vor dem Brandenburger Tor auf einer riesigen Bühne, vor der anstatt einer feiernden Menge nur schwarze Leere zu sehen war. Da tummelten sich die üblichen Freibier-Gesichter, die C-Prominenz, bei Jörg Pilawa in der ARD, mit Abstand und zwanghaftem Bemühen, das Beste draus zu machen aus diesem bemitleidenswerten Versuchsaufbau.

Ein Freund schrieb mir: "Danke, liebes ZDF, für die tolle Show. Es spielen gerade die ,Höhner‘. Das ist das beste Silvester, was ich je hatte. Ich gehe jetzt ins Bett. Gute Nacht." Gesegnet sind die, die nach diesem Seuchenjahr ihren Sinn für Ironie nicht verloren haben.

Unzivilisierter Exzess

Sehen wir der Tatsache ins Auge: Silvester ist ein durch und durch unzivilisierter Exzess und dafür lieben wir es. Wir schauen jedes Jahr wieder dabei zu, wie der hilflos betrunkene Butler über den Tigerkopf stolpert und lachen Tränen. Wir lassen Kinder lange aufbleiben und zwischen Knallfröschen herumhüpfen. Es ist die Nacht, in der wir unseren inneren Barbaren herauslassen können und einfach mal nicht auf Nachhaltigkeit, Sinnhaftigkeit und bewussten Konsum achten müssen.

Das passt nicht in unsere Zeit. Man kann deshalb auch positive Seiten des Pandemie-Jahreswechsels hervorheben. Aber: Als echte, dauerhafte Alternative darf diese verstümmelte Version einer Silvesternacht bitte nicht angeführt werden.