Der hervorragende Dirigent Mariss Jansons ist tot

1.12.2019, 18:34 Uhr

Mitte Mai hat er noch mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks ein begeistert gefeiertes Konzert in der Nürnberger Meistersingerhalle gegeben, jenes Orchester, das er zusammen mit dem BR-Chor seit Herbst 2003 leitete. Für dieses Orchester verzichtete der Lette auf die Nachfolge von Simon Rattle bei den Berliner Philharmonikern und für diesen außergewöhnlichen Klangkörper redete er sich den Mund fusselig, um die Kommunal- und Landespolitiker von der Notwendigkeit eines neuen Konzertbaus als Heimstatt für das BR-Orchester, bei dem er noch bis 2024 unter Vertrag stand, zu überzeugen. Das Haus entsteht derzeit in der Nähe des Münchner Ostbahnhofs.

Eigentlich war die Nachricht vom Ableben des Vielarbeiters, der sich immer mehr zumutete als es seine angegriffene körperliche Verfassung zuließ, schon 1996 erwartet worden. Bei den Schlusstakten einer "Bohème"-Vorstellung in Oslo erlitt er einen schweren Herzinfarkt und musste in ein künstliches Koma versetzt werden.

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Doch Jansons nahm nach seiner Genesung das Tempo aus dem Leben nicht heraus. Im letzten Interview mit dieser Zeitung sagte er im Mai: "Man darf sich der Erschöpfung nicht hingeben, sondern muss mental schon das nächste Projekt vorbereiten." Damit war sein Arbeitsethos umfassend umschrieben. Dreimal dirigierte er das Wiener Neujahrskonzert. Er wurde Chef in Pittsburgh und dirigierte überall auf der Welt, etwa Beethovens Neunte bei Papst Benedikt XVI. im Vatikan. Erst auf eindringliches ärztliches Anraten beendete er 2015 die Chefposition beim Concertgebouw Orchester in Amsterdam, die er parallel zu seiner Münchner Funktion bekleidet hatte.

Es war keine Selbstverständlichkeit, dass der charmante Balte, der von seinem Vater, später von Hans Swarowsky in Wien ausgebildet und nachhaltig von Herbert von Karajan gefördert wurde, überhaupt in Deutschland auftreten würde. Seine Mutter Iraida war Mezzosopranistin an der Oper in Riga, brachte ihren Sohn am 14. Januar 1943 aber unter dramatischen Umständen in einem Versteck in der lettischen Hauptstadt auf die Welt, weil sie jüdischen Glaubens war. Ihr Vater und ihr Bruder waren zu diesem Zeitpunkt schon im Rigaer Ghetto umgekommen. Jansons hat auf diese Familiengeschichte nie rekurriert, weil er zutiefst an die menschliche und versöhnende Kraft der Musik glaubte. Daraus schöpfte er Kraft.

Sein Vater wurde 1946 zu den Leningrader Philharmonikern berufen und holte zehn Jahre später seine Familie an die Newa nach. So wuchs der junge Mariss unter starker Prägung russischer Musik auf, für die er sich auch im Laufe seiner Weltkarriere nachhaltig einsetzte, insbesondere für die Sinfonien von Dmitri Schostakowitsch.

Die Aufnahme der 13. Sinfonie von Schostakowitsch mit dem BR-Orchester errang 2006 einen Grammy. Überhaupt schwappte eine ganze Flut an Ehrungen in den letzten zwei Jahrzehnten auf ihn ein, darunter im letzten Jahr die Ehrenmitgliedschaft der Berliner Philharmoniker und vor sechs Wochen der "Opus Klassik" für das Lebenswerk.

Was seine Interpretationen immer auszeichnete, war die absolute Ehrlichkeit dem Notentext gegenüber, seine uneitle, Showgehabe verabscheuende Präsenz. Brillant vorbereitet ließ Jansons jedoch immer die Inspiration des Moments zu und galt als sensibler Sängerbegleiter. Besonderes Interesse zeigte er gegenüber der Chorliteratur, seine Einspielung der "Psalmensinfonie" von Igor Strawinski oder der "Chichester Psalms" von Leonard Bernstein gelten als Referenzaufnahmen.

Ein Überzeugungstäter

Das machte gerade seine Opernaufführungen so unvergesslich, auch wenn er sich nach seiner Osloer Zeit (1979–2000) auf der Opernbühne rar machte. Immerhin konnte ihn Markus Hinterhäuser, der Intendant der Salzburger Festspiele, dazu bewegen, bei den Sommer-Festspielen jeweils eine Produktion zu betreuen. 2018 war das "Pique Dame" von Peter Tschaikowsky. Im nächsten Jahr, zum 100. Jubiläum der Festspiele, hätte das Mussorgskys "Boris Godunow" sein sollen. Mit Mariss Jansons ging ein gewinnender Überzeugungstäter für die Sache der klassischen Musik, die eine große Lücke in ihre Reihen reißt.