Die Kunst, von Kunst zu leben

1.3.2020, 18:32 Uhr

Kürzlich hat Heidi Sill ihren aktuellen Rentenbescheid erhalten. Danach läge ihre Rente aktuell bei 180 Euro monatlich. "Gruselig" nennt die in Langenzenn aufgewachsene Künstlerin, die an der Nürnberger Kunstakademie studierte und seit 2003 in Berlin lebt, die prekäre Perspektive. Seit rund zwölf Jahren kann sie ohne Nebenjob von ihrer Kunst leben, inzwischen kommt sie geschätzt auf ein Nettoeinkommen von rund 12 000 Euro im Jahr.

Für die Grundrente, wie sie jetzt vom Bundeskabinett beschlossen worden ist, würde das nicht reichen. Zwar könnte Sill mit Beginn des Rentenalters die verlangten mindestens 33 Jahre Beitragszahlungen in die Künstlersozialkasse (KSK) locker nachweisen. Auf ein Drittel des bundesweiten Durchschnittseinkommens – bezogen auf das Jahr 2018 sind das 12 624 Euro – käme sie aber nicht. Und wer unter dieser Mindestgrenze bleibt, erwirtschaftet mit seiner Kunst laut Gesetzentwurf nur ein "ergänzendes Einkommen", das keinen Anspruch auf Grundrente rechtfertigt.

Werbung
Werbung

"Das Problem sind die schwankenden Einnahmen. Es gibt gute Jahre und solche, in denen man von seinen Reserven zehrt, wenn man welche hat", sagt der in Fürth lebende Künstler Andreas Oehlert. Er versucht, so wenig wie möglich nebenbei zu jobben, weil man dann schnell aus der KSK fliegt. Die KSK, die den Arbeitgeberanteil übernimmt, erlaubt den Versicherten ein maximales Einkommen von 5400 Euro jährlich aus nicht-künstlerischer Tätigkeit.

Männer besser gestellt

Oehlert und Sill sind zwei von bundesweit zehntausenden Künstlerinnen und Künstlern, denen trotz des jüngsten Grundrentenbeschlusses Altersarmut droht. Seine jüngste Rentenprognose belaufe sich auf 400 Euro monatlich, so Oehlert. Auch das ist bitter wenig. Zugleich zeigt der Unterschied zu Sill beispielhaft, dass weibliche Kunstschaffende noch stärker von Armut betroffen sind als männliche. Für Berlin kommt eine Studie beim Gender-Vergleich zu dem Ergebnis: Männer verdienen im Schnitt 10 777 Euro im Jahr, Frauen 9222 Euro.

Der Bundesverband Bildende Künstlerinnen und Künstler (BBK) hat die Regierung dringend aufgefordert, die Mindestgrenze für den Zugang zur Grundrente auf maximal zehn Prozent des Durchschnittseinkommens abzusenken. Der Wert orientiert sich am Mindesteinkommen für die Aufnahme in die KSK, das bei 3900 Euro liegt. "Lebensleistung verdient Respekt" heißt es zu Beginn des Appells, dem sich Verbände der verschiedensten Sparten – von der Deutschen Jazzunion bis zu ProQuote Film – angeschlossen haben. Laut BBK-Geschäftsführerin Andrea Gysi gibt es inzwischen mehr als 20 000 Unterzeichner. Auch die Allianz der Freien Künste, zu der aktuell 18 Verbände gehören, forderte die Bundesregierung zu einer entsprechenden Korrektur auf.

Denn das Problem betrifft alle professionellen Kunstschaffenden. "Die Prekariatsgefahr ist bei Musikern fast genauso hoch wie bei Schauspielern und bildenden Künstlern", sagt der Nürnberger Jazzpianist und Komponist Peter Fulda.

Der 51-Jährige ist vor allem als Komponist gut im Geschäft, trotzdem sei unsicher, ob sein Einkommen später für die Grundrente ausreiche. Wohlwissend um die weit schlechtere finanzielle Situation vieler Kolleginnen und Kollegen hält auch er eine Absenkung der Mindestgrenze für notwendig.

Der Schauspielerin Patricia Litten war der Weg in die KSK von Anfang an verwehrt. Darstellende Künstler arbeiten in der Regel als Angestellte, für die der Arbeitgeber (also das Theater) anteilig in die Sozialkassen zahlt. Solange sie festangestelltes Ensemblemitglied am Schauspielhaus Nürnberg war, sei das kein Problem gewesen. Doch sobald man mit Stückverträgen arbeite, falle man nach deren Ende wieder aus der Absicherung heraus. "Mit dem, was ich heute als freischaffende Künstlerin verdiene, würde ich die Mindesteinkommensgrenze niemals erreichen", sagt Litten, die die Zugangsbedingungen "skandalös" findet und den Appell des BBK mitunterzeichnet hat.

Ein Damoklesschwert

Existenzängste kennt auch die Nürnberger Choreografin Alexandra Rauh aus ihrem Umfeld. Der freien Tanztheaterszene fehle eine starke Interessensvertretung. Obwohl Rauh seit 30 Jahren in der KSK ist und durch ihre diversen Projekte an Schulen die Bedingungen für die Grundrente wahrscheinlich erfüllen würde, geht sie davon aus, "dass ich auch mit 65 weiter arbeiten werde".

"Die geringe Alterssicherung hängt wie ein Damoklesschwert über allen Künstlern", sagt Thomas May, der neben seiner freischaffenden Tätigkeit seit langem als Kunstlehrer arbeitet, inzwischen festangestellt in Vollzeit. Das sichert sein Auskommen, doch möchte er wieder in Teilzeit wechseln. "Weil für meine Kunstprojekte zu wenig Zeit bleibt." Auch als Vorsitzender der Nürnberger Künstlervereinigung "Der Kreis" weiß May, was die Perspektiven für die meisten sind: "Entweder man stellt den Brotjob in den Vordergrund, arbeitet bis zum Tod oder hofft auf ein Altersstipendium."

Dass professionelle Künstler allein von ihrer Kunst leben, ist in den allermeisten Fällen eine Utopie. Mit der Grundrente – nach aktueller Beschlusslage sind das maximal 404,86 Euro, die zu den erworbenen Rentenansprüchen hinzukommen – werden sie zwar auch nicht auf Rosen gebettet. Sollte sie Künstlern, die ihr ganzes Berufsleben lang in die Rentenversicherung eingezahlt haben, aber vorenthalten werden, weil sie die Mindesteinkommensgrenze nicht erreichen, sehen die Verbände das als Schlag ins Gesicht.

Erklärlich sei das Gesetzesvorhaben nur dadurch, so der bbk Berlin, dessen Sprecherin Heidi Sill ist, dass die Ministeriumsangestellten und Abgeordneten "offenbar keine Vorstellung von der Lebens- und Arbeitswirklichkeit der Mehrheit der Künstler*innen haben und sich einfach nicht vorstellen können, von wie wenig Geld sie leben und arbeiten müssen."