Hans Magnus Enzensberger wird 90

10.11.2019, 08:02 Uhr

Anders als auf Fotos ist Hans Magnus Enzensberger, kurz HME genannt, nicht leicht zu fassen. Wer ist dieser Autor, der auch unter den Pseudonymen Andreas Thalmayr, Linda Quilt, Elisabeth Ambras, Giorgio Pellizzi, Benedikt Pfaff, Trevisa Buddensiek sowie Serenus M. Brezengang schreibt?

Der international renommierte Autor zählt zu den wichtigsten Intellektuellen und vielseitigsten Publizisten Deutschlands. Er hat Gedichte und politische Pamphlete geschrieben, Kinderbücher, Hörspiele und Theaterstücke, Essays und Romane. Er war als Verlagslektor, Übersetzer und als Herausgeber tätig. Und er hat sich – auch politisch – nie auf eine Rolle festlegen lassen. Manche Kritiker haben ihm das vorgeworfen. Im Land der Dichter und Denker ist die seltene Mischung aus analytischem Verstand, blühender Phantasie, enzyklopädischem Wissen, spielerischer Leichtigkeit, leisem Spott, Witz, Understatement und Selbstironie ziemlich verdächtig.

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Jugend in Nürnberg

Geboren wurde Enzensberger am 11. November 1929 im Allgäu. Aufgewachsen ist er in Nürnberg am Kesslerplatz, wo sein Vater als Oberpostdirektor arbeitete. In Nürnberg erlebte der eigensinnige Junge auch die Hitler-Diktatur und später die ersten Luftangriffe. Wenn man genau hinhört, fällt einem heute noch sein fränkischer Zungenschlag auf.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs begann er in Erlangen, Literaturwissenschaft und Philosophie zu studieren. 1967 erhielt er den Kulturpreis der Stadt Nürnberg, nach verschiedenen Stationen lebt er seit 1979 in München. Franken taucht nicht nur in seinen Gedichten immer mal wieder auf, sondern auch in seinem Erinnerungsbuch "Eine Handvoll Anekdoten".

1957 legte Enzensberger seinen ersten Lyrikband unter dem Titel "Verteidigung der Wölfe" vor. Darin las er seinen bewusstlosen Zeitgenossen im spießigen Wirtschaftswunderland gründlich die Leviten und machte sich schnell einen Namen als zorniger junger Mann der Literatur. Bis heute zählt er zu den geistreichsten und zugleich amüsantesten Lyrikern deutscher Sprache.

HME lebte in den USA, Mexiko, Italien, heiratete eine Norwegerin – es war die erste von drei Ehen. 1960 ging er als Lektor zu Suhrkamp und blieb dem Verlag über die Jahre treu, als Übersetzer, Berater, Herausgeber, vor allem aber als Autor.

Enzensberger nahm an mehreren Tagungen der Schriftstellervereinigung "Gruppe 47" teil. 1963 erhielt er als bis dahin jüngster Autor den renommierten Georg-Büchner-Preis. Auch für das Nachrichtenmagazin Der Spiegel, dessen Sprache er zuvor kritisiert hatte, schrieb er fortan regelmäßig. 1965 erschienen die ersten Ausgaben seiner Kulturzeitschrift Kursbuch, die bald zum Kultmagazin der Studentenbewegung wurde. HME sympathisierte mit der Außerparlamentarischen Opposition (APO) der 68er, ließ sich aber nie von ihr vereinnahmen. Auch das verziehen ihm einige nicht.

Obwohl sich HME im Laufe der Zeit immer wieder politisch einmischte, wenn er es für angebracht hielt, galt sein wahres Interesse stets der Literatur. Er gründete die Zeitschrift TransAtlantik und die renommierte Buchreihe "Die andere Bibliothek". Und er schrieb unermüdlich immer weiter. In einem erstaunlichen Alter, in dem andere Bilanz ziehen und ihre Memoiren verfassen, legt Enzensberger mit "Fallobst" ein literarisches Poesie-Album der besonderen Art vor. Er selbst nennt es "Nur ein Notizbuch" – aber das ist natürlich stark untertrieben. Zu diesem "Fallobst" gehören auch Lesefrüchte, die HME mit autographischen Splittern und Notizen zum Zeitgeschehen zu geistig Hochprozentigem verarbeitet. Eine Methode, die er seit etlichen Jahren perfektioniert hat.

Der Vergleich mit Georg Christoph Lichtenbergs "Sudelbüchern" ist naheliegend. Seine aktuellsten Bücher wie "Album", "Tumult" und "Eine Handvoll Anekdoten" liefern erdachte und erlesene Bruchstücke zu seiner geistigen Biografie. Eine Autobiografie ist Enzensberger seinen Lesern hingegen ebenso schuldig geblieben ist wie ein Opus Magnum. Er hat immer lieber den Sprinter und Libero in der Literatur gespielt als den Gewichtheber oder Marathonläufer.

Drei Neuerscheinungen belegen seine Vielseitigkeit: Neben dem Notizbuch ist das ein Sammelband mit Gedichten der vergangenen 70 Jahre und eine Ausgrabung aus den 50er Jahren: Als Student reiste Enzensberger durch die USA; ein Ergebnis dieser Reise war das lehrreiche Radio-Feature "Louisiana Story".

Und natürlich macht sich HME auch wieder Gedanken über die seltsame Zeit, in der wir leben. Er warnt vor "unheilvollen Verbindungen von Geheim- und Nachrichtendiensten und Internet-Konzernen", kritisiert die USA und preist die positiven Folgen der Migration.

"Jetzt gleiche ich einem Autoreifen, aus dem langsam die Luft entweicht", heißt es in "Fallobst" ganz lakonisch. Um im Bild zu bleiben: Platt war HME noch nie und wird es wohl auch nie werden. Profil beweist er immer wieder aufs Neue.

Hans Magnus Enzensberger: Fallobst. Nur ein Notizbuch. Suhrkamp Verlag, Berlin. 450 Seiten, 22 Euro.

Hans Magnus Enzensberger: Gedichte 1950–2020. Suhrkamp Taschenbuch. 250 Seiten, 14 Euro.

Andreas Thalmayr: Louisiana Story. Mit Illustrationen von Hannes Binder. Hanser Verlag, München. 77 Seiten, 19 Euro.

Stefan Moses: Hans Magnus Enzensberger. Eine Hommage. Verlag Schirmer/Mosel, München. 104 S. mit 48 Fotos, 29,80 Euro.