Sibylle Bergs neues Buch „Wunderbare Jahre“

9.1.2017, 15:55 Uhr

Kaum zu glauben, dass Sibylle Berg einst ein armes „Zonen“-Hascherl war. Denn heute ist sie längst die damen- und divenhafteste Erscheinung der deutschen Gegenwartsliteratur, ausgestattet zudem mit der Schweizer Staatsbürgerschaft. Aber 1984, nach ihrer Ausreise aus der damals noch real existierenden DDR, stolperte die gelernte Puppenspielerin und spätere Erfolgsautorin verwirrt durch den Westen. Genau davon handelt eine Geschichte in Sibylle Bergs jüngstem Buch „Wunderbare Jahre“, einer Sammlung von Reiseberichten aus allen Weltgegenden, worin sich auch jene Erinnerung an Ihre erste Auslandsfahrt im Westen findet.

Die führte das unschuldige Ost-Mädel in den 80ern nach Wien, das sich die junge Sibylle als beschauliches Städtchen erträumt hatte, wo lauter Literaten in putzigen Kaffeehäusern rumsitzen. Um so größer der Kulturschock, als sie sich dann in einer Millionenstadt wiederfand, wo schon die verkehrsdurchtoste Ringstraße breiter ist als manche Autobahn.

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Begnadete Desillusionistin

Das Grundmotiv der Enttäuschung durch eine Realität, die immer hinter den Vorstellungen zurückbleibt, die man sich von ihr gemacht hat, prägt all die Reise-Texte in diesem Fahrtenbuch der anderen Art. Wie auch in ihren Romanen und Theaterstücken, erweist sich Sibylle Berg hier als begnadete Desillusionistin. Bei einer Fahrt mit dem Eastern and Oriental Express etwa, einem teuren Luxuszug von Thailand nach Singapur, steigt sie schon nach einem Tag genervt aus.

Sie erträgt die angeberischen Mitreisenden nicht mehr, die sich zum Dinner „als Erwachsene verkleiden und Erwachsenengespräche führen, die aus Satzbaukästen entnommen wurden“.

Letztlich ist es die Traurigkeit über eine Welt, die weit vom Ideal abweicht, was sich im sarkastischen Witz dieser Autorin artikuliert. Ihre eisig klirrende Ernüchterungsprosa kündet eigentlich von der enttäuschten Liebe einer einstmals naiven Idealistin. Insofern geht es hier um viel mehr als nur ums Reisen: die Berg rotzt uns quasi ihren metaphysischen Frust hin. Aber weil sie das, inzwischen längst weltläufig und mit allen Wassern gewaschen, so witzig-überlegen tut, fühlt man sich beim Lesen gleich selber viel souveräner.

Dass es manchmal allerdings besser ist, enttäuscht zu werden, als etwas Aufregendes zu erleben, zeigt sich an der Geschichte „Selber schuld!“, in der es ganz und gar nicht lustig zugeht.

Hier berichtet Sibylle Berg, wie sie auf dem Meer bei Myanmar (früher Burma oder Birma genannt) unterwegs ist, in einem Archipel von 800 unbewohnten Inseln.

Dann aber tauchen unverhofft bewaffnete Rebellen der KNLA auf, und mehrere Stunden steht es Spitz auf Knopf, ob die Touristen nicht von den Kämpfern erschossen werden „müssen“. Aus Sicherheitsgründen quasi, um zu verhindern, dass der Aufenthaltsort der Rebellen dem Militär bekannt wird.

Was einem in solchen womöglich letzten Momenten des Lebens durch den Kopf geht? „Ich denke nochmal an alle Leute zu Hause, denke an die Schweiz, die Müllabfuhr, die Nachbarn (. . .). Kurz vor dem Ende scheint das Leben besonders reizend. Dinge, die mir schon lange egal waren. Ein Frühling und Teermaschinen, der See, wie er riecht, die Steuer.“ — Man sieht: während Reiseliteratur sonst immer Lust aufs Fortfahren macht, ist das neue Buch von Sibylle Berg gut gegen Fernweh.

Sibylle Berg: „Wunderbare Jahre“, Hanser Verlag, München 2016, 192 Seiten, 18 Euro.