Swinging London in den 70ern

10.6.2015, 11:24 Uhr

Die Rocksäume der Mädchen bewegten sich immer mehr vom Knie aufwärts. Die Haare der Jungs wurden immer länger. In den Parks hockten die Teenager um die laut aufgedrehten Radios. Die Atmosphäre war aufgeladen im Swinging London der frühen siebziger Jahre, wo die geordneten Elternwelten durcheinander gerieten, weil die nächste Generation in voller Breitseite ihre rebellische Befriedigung suchte. Die Pendler lasen in vollen Zügen von den Ausschweifungen in einer wackeren neuen Welt. Dann holte das Musical „Hair“ auch sie vom Fernseher weg, weil alle vor Ort sehen wollten, dass und wie die Hüllen fielen. Theater machte Schlagzeilen und die Zügel wurden immer mehr gelockert.

Luke Kanowski hat von all dem gehört. Nur hockt er in der Provinz, wo alles bloß als Echo ankommt. Sein Kapital ist eine exzessive Energie, mit der er liest, die Schule schmeißt und abends im Kaff-Club wenigstens ein bisschen von der neuen Zeit inhaliert, um die Stigmatisierungen seiner Migrantenherkunft abzuschütteln, „den Kopf voller wirbelnder Gedanken“. Die Mutter sitzt in der Irrenanstalt, der Vater besucht sie nicht, weil er rund um die Uhr einen sitzen hat. Luke hat das Herz am rechten Fleck und jede Menge Talente. Als ihn dann eines Nachts im verregneten Lincolnshire-Abseits Leigh mit radioreifer Stimme durch die nur wenig herabgelassene Seitenscheibe nach dem Weg fragt, erkennt er die Chance und folgt ihr und Paul nach London . . .

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Sympathische Protagonisten

Auch in ihrem vierten Roman erzählt die Britin Sadie Jones aus der jüngeren Geschichte ihres Landes. Vom Start weg avancierte sie im Jahr 2008 zum Publikumsliebling, nachdem ihr Debütroman „Der Außenseiter“ erschienen war. Das blieb auch so nach „Kleine Kriege“, wo sie vom englischen Kolonialanspruch der 50er-Jahre zerrüttete Seelen schilderte, und nach „Der ungeladene Gast“, wo sie mit Fantasy-Elementen ungewöhnliche Bilder für das Erodieren des ländlich Bürgerlichen am Beginn des 20. Jahrhunderts fand. Und das wird erst recht so bleiben nach diesem Trip ins turbulente London in seinen vielleicht besten Jahren. Sadie Jones kann punktgenau ihre pointierten Sätze reihen und so die Ereignisse wie in einem Kammerspiel auf die Spitze treiben.

Zu solchem Ende rückt sie mit Luke, Leigh, Paul und Nina gleich vier höchst sympathische Protagonisten ins Zentrum ihres Romans. Alle sind erst Mitte zwanzig. Zwischen Fremdbestimmung und Selbstentfaltung frönen sie ihrer Passion für die Bretter, die die Welt bedeuten. Sie arbeiten mit- oder gegeneinander, haben Erfolg oder nicht, stehen an Tresen oder liegen in wechselnden Konstellationen in den Betten. Sie stemmen sich gegen Seifenopern und das Establishment, lieben und hassen sich. Sie sind theatralisch aufgedreht dabei oder zu Tode betrübt. Leidenschaft schafft Leiden. Sie erschaffen etwas in verführenden oder verfahrenen Situationen. Mal sind sie so zerfleddert wie ihre Manuskripte, mal berauscht vom Glück des Gelingens und immer gierig nach Leben.

Geballte Jugendinvasion

Er sagt „Shakespeare, Fitzgerald und ich“, sie wirft ihm vor, er sei zu besitzergreifend, wenn er „meine Freundin“ sagt. Schuld und Bühne, Gruppen- und Truppendynamik, so drängt eine „geballte Jugendinvasion“ aus der Parallelwelt in die richtige und nabelt sich ab. Weil Sadie Jones für alle ein großes Herz hat, läuft ihr die Erzählökonomie mitunter aus dem Ruder. Doch folgt man ihr als Leser trotzdem überall hin, weil sie mit Tempo und zugeneigtem Witz eine bewegte Zeit heraufbeschwört bis hin zum unverhofften Happy End.

Sadie Jones: Jahre wie diese. Roman. Aus dem Englischen von Brigitte Walitzek. DVA, 414 Seiten, 19,99 Euro.