Tödliche Gleisattacke in Frankfurt: Täter nicht schuldfähig?

5.12.2019, 11:46 Uhr

Der Vorfall am Frankfurter Hauptbahnhof sorgte bundesweit für Schlagzeilen. © Arne Dedert, dpa

Geht es um den Geisteszustand von Angeklagten, sind in vielen Gerichtsverfahren Psychiater mit forensischen Kenntnissen gefragt. Und so wird es auch im Fall des 40 Jahre alten Eritreer sein, der, so der Vorwurf, am 29. Juli einen Achtjährigen und dessen Mutter vor einen einfahrenden ICE stieß. Der Junge starb im Gleisbett, seine Mutter konnte sich in letzter Sekunde retten. Eine ältere Frau, die er auch attackiert hatte, konnte sich in Sicherheit bringen, ohne auf die Gleise zu stürzen.

Eine entsetzliche Tat – der Eritreer, der seit 2006 in der Schweiz lebte, kam zunächst in Untersuchungshaft. Mittlerweile ist er psychiatrischen Krankenhaus untergebracht.

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Nun meldet die Deutsche Presseagentur, dpa, dass der Eritreer als psychisch krank und schuldunfähig gilt. Daher erhebt die Staatsanwaltschaft keine Anklage, sondern hat einer Antragsschrift erstellt. Dies ist kein Skandal, wie auf Facebook skandiert wird, sondern das übliche Vorgehen in einem Rechtsstaat.

Für eine Antragsschrift in einem Sicherungsverfahren gelten sinngemäß die gleichen Vorschriften des Strafverfahrens, so regelt es die Strafprozessordnung. Doch offenbar kann der Eritreer für die Tat nichts, weil er zum Tatzeitpunkt unter einer Psychose litt und die Realität nicht richtig einzuschätzen wusste.

Damit kein Missverständnis entsteht: Die Tat hatte damals bundesweit für Entsetzen gesorgt und eine abermalige Debatte über Sicherheit an Bahngleisen ausgelöst – es geht nicht darum, die entsetzlichen Folgen der Tat zu verharmlose. Doch tatsächlich ist derzeit weder der Eritreer auf freiem Fuß, noch ist in den nächsten Jahren damit zu rechnen, dass er in die Freiheit entlassen wird.

Im Fokus des Prozesses wird die Frage stehen, inwieweit der Mann tatsächlich aus einer Psychose heraus gehandelt hat. Für die Verteidigung, die Staatsanwaltschaft und am Ende für die Richter wird sich die Frage stellen, ob die Tat im Zusammenhang mit einer psychischen Erkrankung zu sehen ist.

Schon kurz nach der Tat hatten die Ermittler Hinweise darauf gefunden, dass der Beschuldigte an einer Psychose leidet. Er war deswegen offenbar in ärztlicher Behandlung, auch bei seiner Festnahme soll er einen verwirrten Eindruck gemacht haben. Der Mann wurde deshalb bereits vorläufig in der Forensik untergebracht. Bestätigt sich dieser Eindruck in der Hauptverhandlung, steht am Ende keine Gefängnisstrafe, sondern die Unterbringung in einer Psychiatrie.

Wie man sich das Verfahren vorstellen muss? Wenn bei Beschuldigten wie dem Eritreer festgestellt werden muss, ob sie schuldfähig sind oder nicht, sind Psychiater gefragt. Die Mediziner sind keine „Richter in Weiß“ — vielmehr gelten die Gutachter als Wissenshelfer der Richter.

Während Rechtsmediziner beispielsweise Blutalkoholgutachten erstellen, Leichen sezieren und Todesumstände und -ursachen erläutern, sollen Psychiater Menschen wie dem Eritreer hinter die Stirn blicken und herausfinden, was dieser denkt, fühlt, will.

Um festzustellen, ob und wie sehr ein Angeklagter psychisch krank ist, greifen die Mediziner auf die Biografie der Person zurück, auf Angaben von Zeugen, Ermittlungsakten und Arztberichte. Und sie sprechen sehr ausführlich mit den Betroffenen.

Stellt der Psychiater beispielsweise eine Persönlichkeitsstörung fest, können vermindert schuldfähige Täter auf eine mildere Strafe hoffen, dies ist in Paragraf 21 des Strafgesetzbuches geregelt. Charaktermängel reichen dafür nicht. Wer völlig schuldunfähig ist, kann nach dem Paragrafen 20 gar nicht bestraft werden.

Am Ende der Beweisaufnahme müssen die Richter — ein einzelner Amtsrichter kann über die Unterbringung nicht entscheiden, derartige Verfahren gehen an Strafkammern am Landgericht — beurteilen, ob sie das Verhalten des Beschuldigten für gefährlich halten und glauben, dass er wegen seiner Krankheit auch künftig wieder zur Gefahr werden könnte. Die Auslegung im Einzelfall ist Ermessenssache des Gerichts.

Es gilt, die Allgemeinheit zu schützen und Menschen wie den Eritreer (auch im Sinn des Opferschutzes) zu heilen. Daher hängt die Dauer der Unterbringung von der Gefährlichkeit des Patienten ab. In diesem Fall wird sie vermutlich unbefristet sein.

Ob eine weitere Unterbringung notwendig ist, wird vom Gericht jedes Jahr überprüft. Dazu werden Psychiater gehört, die in einem Prognosegutachten die Gefahr einschätzen, die von dem Betroffenen noch ausgeht. Erst wenn die Strafvollstreckungskammer sicher ist, dass der Insasse kein erhebliches Risiko mehr darstellt, wird er entlassen.