75 Jahre NN: Klaus Kreißel und die goldenen Zeiten des Anzeigengeschäfts

12.8.2020, 18:39 Uhr

Es ist kein später Luxus des Ruhestands, den sich Klaus Kreißel jeden Morgen leistet. Es ist pure Gewohnheit. Auch schon in seiner beruflich aktiven Zeit lagen täglich vier Zeitungen bei ihm auf dem Frühstückstisch: NN, NZ, FAZ und Süddeutsche. "Ich bin ein klassischer Zeitungsmann", sagt der 82-Jährige. "Ich will Papier, und ich will gute Information – und zwar quer durch alle Bereiche."

Klaus Kreißel ist so etwas wie der idealtypische Leser. Ihn interessiert alles. Politik, Wirtschaft, Lokales, Kultur – und der Anzeigenteil. Letzteres hat freilich etwas mit seiner Berufsbiografie zu tun. Kreißel war 29 Jahre lang Chef der Anzeigenabteilung im Verlag dieser Zeitung. Er hat die besten Jahrzehnte des Mediums Tageszeitung erlebt. Und er konnte als Anzeigenchef regelmäßig mit dem schönen Gefühl in den Feierabend gehen, die solide finanzielle Grundlage für eine qualitativ hochwertige Regionalzeitung gesichert zu haben.

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Wenn man sich mit dem beneidenswert fitten Ruheständler über die alten Zeiten unterhält, wird in ihm wieder die ganze Leidenschaft für seinen Beruf lebendig. Die allerdings mit dem Schmerz gepaart ist, den ihm die wirtschaftliche Krise verursacht, die sein geliebtes Medium seit einigen Jahren zu bewältigen hat. "Das tut schon weh."

Was später mal ein Traumberuf werden sollte, begann im Grunde als bessere Verlegenheitslösung. Klaus Kreißel wuchs als Kriegskind im Herzen der Nürnberger Altstadt auf. Kaum ein Gebäude in der Theresienstraße, wo sein Elternhaus stand, war bei Kriegsende 1945 nicht "fliegergeschädigt". "Wir haben 14 Jahre lang auf einem Ruinengrundstück gehaust", erzählt Kreißel. Einschränkungen, Entbehrungen gehörten zum normalen Alltag.

Mit der Mittleren Reife geht der Sohn eines städtischen Beamten 1956 vom damaligen Willstätter Realgymnasium ab. Abitur und Studium sind ihm nicht vergönnt. "Mein älterer Bruder hat studiert, und ein zweiter Student hätte die Familie finanziell erdrückt." Auch wenn es wirtschaftlich im Nachkriegs-Deutschland schon wieder aufwärts geht, ist es noch nicht die Zeit, in der die Berufswahl für junge Leute ein kleines Wunschkonzert ist. Umso wichtiger sind gute Kontakte. Kreißels Eltern sind mit Bruno Schnell befreundet, der mit 27 Jahren bereits rechte Hand von NN -Gründungsverleger Joseph Drexel ist. Er holt den Schulabgänger in den Zeitungsverlag. Klaus Kreißel ahnt da noch nicht, "dass dies letztendlich der Glücksgriff meines Lebens war".



In seiner Ausbildung zum Verlagskaufmann durchläuft er alle kaufmännischen Abteilungen des aufstrebenden Hauses. Er lernt den Vertrieb und die Buchhaltung kennen, aber am spannendsten findet er von Beginn an die Anzeigenabteilung. Nach zwei Jahren wird er rechte Hand des Anzeigenchefs. "Wenn es Probleme gab, kamen da die Leute schon zu mir."

Als Vertreter der Anzeigenabteilung ist Klaus Kreißel jeden Tag am unmittelbaren Prozess des Zeitungsmachens beteiligt. Am späten Nachmittag sitzt er mit dem damaligen Chefredakteur Roland Buschmann zusammen und zurrt den Seitenspiegel fest. Die Anzeigenabteilung ist es schließlich, die darüber entscheidet, wie viel Platz die verschiedenen Ressorts haben, wie ihre Seitenstücke genau aussehen und ob insgesamt vier Seiten mehr oder weniger gedruckt werden. "Mit Buschmann, einem absoluten Macher, war das eigentlich immer eine lockere Geschichte", gerät Kreißel ins Schwärmen. "Eine tolle Zeit."

Ungefähr 60 Personen arbeiten damals in der Anzeigenabteilung, fast alle müssen zusammen mit anderen Verlagsmitarbeitern im alten Sandsteinhaus in der Marienstraße Platz finden. "Eng auf eng ging es da zu", erinnert sich Kreißel. Aber alle hätten es mit großer Gelassenheit ertragen. Man hatte schwere Zeiten hinter sich. Und schließlich wohnte man gut zehn Jahre nach Kriegsende privat auch meist noch auf wenig Platz. Umso größer war in dem prosperierenden Unternehmen das Zusammengehörigkeitsgefühl. "Wir haben voller Stolz gesagt: Wir sind NNler", erzählt Kreißel. "Und gefeiert wurde auch viel. Es ging schließlich steil nach oben."

In den 50er und 60er Jahren haben es Kreißel und seine Kollegen bei der Anzeigenkundschaft vor allem mit den Chefs des inhabergeführten Einzelhandels in Nürnberg zu tun. Filialen großer Ketten gibt es damals in der Stadt noch so gut wie nicht. Mode-Rupp, Arno Richter, Haus der Mode, Schuhhaus Duda – so heißen damals die Stamm-Inserenten. Die Anzeigen sind noch ausschließlich schwarz-weiß, und die Verhandlungen über die Kosten weniger hart als in späteren Zeiten.



Nach einem kurzen Intermezzo bei der Nürnberger Zeitung – sie wird in den 60er Jahren sukzessive von den NN übernommen – kehrt Kreißel 1965 seiner Heimatstadt vorübergehend den Rücken. Er wird stellvertretender Anzeigenleiter beim Münchner Merkur. "Ich wollte einfach mal raus aus Nürnberg, und München war für mich als begeisterten Skifahrer und Bergsteiger eine verlockende Stadt", sagt Kreißel im Rückblick.

Der Ortswechsel lohnt sich dann vor allem aus ganz anderen Gründen. Auf der Wiesn lernt der Franke seine spätere Frau Brita kennen. Sie ist Mitarbeiterin des damaligen Ministerpräsidenten Alfons Goppel und später 23 Jahre lang und durch alle Kabinettspositionen hindurch Chefsekretärin von Max Streibl. Sie hat Verständnis für die oft elf bis zwölf Stunden dauernden Arbeitstage Kreißels. Sie kommt oft auch nicht früher aus dem Büro als er.



Und als Kreißel nach zehn Jahren München wieder einem Ruf aus Nürnberg folgt und Nachfolger des überraschend verstorbenen NN-Anzeigenleiters wird, legt seine Ehefrau auch kein Veto ein. Sie bleibt in München, und die beiden Workaholics führen 23 Jahre lang eine Wochenendehe. "Wir hatten einfach beide schöne Berufe", sagt Klaus Kreißel. Und geschätzte 80 Prozent der Wochenenden verbringen beide in diesen Jahren in Nürnberg.

Kreißels Rückkehr zu den NN fällt ausgerechnet in eine Phase der Rezession. Die Anzeigenumsätze gehen zurück. Erstmals machen die erfolgsverwöhnten Verlage die Erfahrung, dass es nicht immer nur aufwärts geht. Es ist ein kurzer Dämpfer. Nach gut einem halben Jahr zieht das Geschäft schon wieder an.



Vieles ändert sich dann mit dem Jahr 1978. Kreißel spricht vom "Karstadt-Effekt". Die Kaufhauskette eröffnet damals ihr Haus in Nürnberg und bewirbt es als "Weltstadt-Warenhaus". Der große Konkurrent rüttelt den kompletten Einzelhandel der Stadt wach. "Nach und nach", erinnert sich Klaus Kreißel, "wurden die Fassaden der Geschäftshäuser gerichtet und die Schaufenster spürbar aufgehübscht. Nürnberg wurde plötzlich eine blühende Einkaufsstadt."

Für den Anzeigenchef der Zeitung und sein Team eine erfreuliche Entwicklung. Kaufhof, Horten, Hertie, Karstadt, C & A und an der Stadtgrenze zu Fürth das Quelle-Kaufhaus – Nürnberg weist plötzlich eine extremhohe Kaufhausdichte auf. Die Großanbieter müssen mit Werbung auf sich aufmerksam machen. Und der erfolgversprechendste Werbeträger ist die Tageszeitung. Daneben wächst der Stellenmarkt rasant an. In der Spitze umfasst er in einer Wochenendausgabe 71 Seiten.

Auch für Kleininserenten ist die Zeitung unentbehrlich. Bis zu 5000 Kleinanzeigen müssen vor dem Wochenende vor allem telefonisch aufgenommen werden. "Meine Leute mussten da oft bis zum Anschlag arbeiten", erinnert sich Kreißel.

Gleichzeitig werden die Verhandlungen um die Werbeetats härter. Und der Anzeigenchef, der mit den Großkunden persönlich verhandelt, muss sich in diesen Gesprächen oft genug Klagen über die abweisende Haltung der Redaktion anhören.

"In den 70er und 80er Jahren war der Lokalchef der Überzeugung, den Namen eines Inserenten auch mal in einem redaktionellen Text zu erwähnen, sei schon Schleichwerbung", klagt Kreißel noch heute. "Dabei waren das ja auch Unternehmen, die es verdient hatten, dass mal über sie berichtet wurde."

Wenn die strikte Trennung von redaktionellem Inhalt und Anzeigen mal keinen Ärger machte, dann klagten vor allem die mittelständischen Kunden über die politische Ausrichtung der NN. "Für die waren wir eine linke Zeitung, und sie selbst dachten eher konservativ." Wenn Klaus Kreißel von all den in der aktiven Zeit ausgefochtenen Kämpfen erzählt, lodert in ihm wieder die Flamme des Zeitungsmanns.

2004, er ist da 66 Jahre alt, geht Kreißel dennoch ohne große Wehmut in den Ruhestand. Der Einzug der EDV, die beginnende Digitalisierung und der Siegeszug des Internets lassen in ihm die Überzeugung wachsen, dass dies eine neue Ära, nicht mehr seine Ära ist.

Wandern, Skifahren, Golf – nach 48 Jahren Berufsleben begann Klaus Kreißel seine Zeit anders zu nützen. Es gibt auch ein Leben ohne Zeitungsmachen. Aber keines ohne gründliches Zeitungslesen.