Am See der Sehnsucht

27.7.2018, 08:00 Uhr

Für Rinder- und Schweinebauern war MKS zur damaligen Zeit eine existenzbedrohende Tierseuche. Für mich, den Sohn eines Ferkelhändlers, war es dagegen die Chance auf eine Reise in den Süden.

Wenn im Sommer während der Ferienzeit Maul- und Klauenseuche ausbrach und in Bayern sämtliche Ferkelmärkte gesperrt wurden, durfte ich darauf hoffen, dass mein Vater abends verkündete: "Morgen fahren wir in Urlaub." Über Nacht wurden dann hektisch die Koffer gepackt, harte Eier als Reiseproviant gekocht, am Morgen noch Wurstbrote geschmiert und Thermoskannen mit Maxwell-Kaffee gefüllt. Dann wurde alles im Opel Rekord verstaut. Was nicht im Kofferraum Platz hatte, wurde in den Fußraum des Rücksitzes gepackt.

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Meine beiden älteren Schwestern und ich hätten vermutlich auch ohne diese kleine Reiseerschwernis auf der 600 Kilometer langen Strecke ausdauernde Revierkämpfe ausgetragen. "Hört endlich auf, zu streiten", ermahnten uns die Eltern abwechselnd und zunehmend genervt. Sie hätten es auch sein lassen können.

Kurvenreiche Pässe

Unser Ziel war der See deutscher Sehnsüchte, der Gardasee. Anfang der 60er Jahre führte der Weg dorthin noch über kurvenreiche Alpen-Passstraßen. Und spätestens auf der Höhe von Bozen wusste man auf der Rückbank nicht mehr, ob einem jetzt von den harten Eiern, von den Wurstbroten, von der Hitze oder vom Mickymaus-Heft-Lesen schlecht war.

Riva an der Nordspitze des Gardasees hätte mir deshalb immer bestens getaugt als Urlaubsort. Aber weil sich meine Mutter und mein Vater einig waren, dass der schönste Ort, Sirmione, ganz im Süden war, ging es an der endlos erscheinenden Küstenstraße vorbei an Malcesine, Brenzone, Garda, Bardolino nach Colombare und schließlich auf die Halbinsel von Sirmione.

Wer spontan der fränkischen Maul- und Klauenseuche entfloh, hatte natürlich von zu Hause aus keine Unterkunft gebucht. Also klapperten wir im allmählich einbrechenden Abend erschöpft Sirmiones Privatpensionen ab, die mit einem "Camere"-Schild auf freie Zimmer aufmerksam machten, bis endlich was Passendes gefunden war.

Jetzt begann der Urlaub. Von einem Moment auf den anderen prägte südländische Leichtigkeit unser Familienleben. Oder zumindest das, was meine Eltern darunter verstanden. Sie hatten keine Lust auf organisiertes Strandleben, sondern suchten die absolute Ungestörtheit und Ruhe am Wasser. Auf gut Glück wurde am ersten Morgen mit dem Auto nach diesem Ort der Erholung gesucht. Abgelegene Feldwege durch Mais- und Sonnenblumenäcker wurden abgefahren. Sobald irgendwo der See durchs mannshohe Grün schimmerte, stellten wir den Wagen ab, suchten uns am Ufer eine passende Stelle für unsere Decken und Handtücher und ließen uns für den Rest des Tages dort nieder. Wir schwammen im warmen See, paddelten auf der Luftmatratze liegend durchs Uferschilf, spielten Federball oder dösten in der Sonne.

Mittags wurde auf einem kleinen Gaskocher eine Tütensuppe zubereitet. Dazu gab es italienische Salami, Weißbrot, Tomaten und Pfirsiche, deren wunderbares Aroma meinem Vater immer wieder denselben Spruch entlockte: "Ihr bestes Obst essen die Italiener selber, das andere verkaufen sie nach Deutschland."

Die Einfachheit und Anspruchslosigkeit dieses Urlaubslebens wurde in unserer Familie stets als Geheimrezept gelungener Erholung gehandelt. Massenstrände und Hotelluxus betrachteten wir als albernen Irrtum der sich in diesen Jahren allmählich entwickelnden Wohlstandsgesellschaft.

Am Abend schlenderten wir durch die historische Altstadt von Sirmione. In irgendeiner Trattoria aßen wir Pizza oder Pasta. Und danach gab es für jeden noch ein Eis.

Näherer Kontakt zur einheimischen Bevölkerung scheiterte daran, dass niemand in der Familie über einen Italienisch-Sprachschatz verfügte, der über die Begriffe für Grundlebensmittel und die Zahlen von eins bis hundert hinausging. Bei mir, dem Jüngsten, sah es in der Beziehung noch schlechter aus.

Trotzdem fand ich, wenn die Eltern nach Sonnenuntergang noch auf irgendeiner Piazza ein Gläschen Wein tranken, manchmal einen Spielkameraden für einen Abend. Und wenn wir nur gemeinsam mit großer Ausdauer – und zum Glück ohne jede Aussicht auf Erfolg – Steine in den Nachthimmel in Richtung der dort lautlos umherschwirrenden Fledermäuse warfen.

Wir verrieten uns unsere Vornamen und wahrscheinlich noch das Alter. Dafür reichten damals die zehn Finger unserer Hände. Mehr musste man voneinander eigentlich auch nicht wissen. Nach einer Woche oder spätestens nach zehn Tagen war ich ohnehin wieder auf der Heimreise. Noch nicht einmal mit Hilfe eines Wörterbuchs hätte ich Michele oder Paolo damals erklären können, was mich, den Siebenjährigen aus Franken, nach Sirmione verschlagen hatte. Denn das italienische Wort für Maul-und Klauenseuche hätte ich darin vermutlich vergeblich gesucht.

Hans-Peter Kastenhuber, Jahrgang 1955, ist Reporter der Nürnberger Nachrichten.