Die trügerische Dorf-Idylle

15.9.2011, 07:15 Uhr

Das kleine Dörfchen im Landkreis Neustadt an der Aisch /Bad Windsheim ist – zumindest an der Oberfläche – Idylle pur, weit abgelegen von der nächsten Bundesstraße, mitten in der Natur, ein Ort, wo sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagen. Menschen, die Ruhe suchen, möchten gerne dort wohnen, am liebsten für immer.

Die meisten der Einwohner tun das. „Seit 50 Jahren bin ich da“, erzählt eine ältere Frau. Sie kennt sich aus mit Gerüchten und Geheimnissen, die sich um die Bewohner ranken wie Bäume und Wiesen um die kleine Ansiedlung. Denn das mittelfränkische Willmersbach, ein Ortsteil der Gemeinde Gerhardshofen, ist so winzig, dass nur eine Straße durchführt. Wenn der Nachbar Besuch kriegt, bleibt das nicht verborgen.

Ebensowenig wie das Gegenteil. „Bei denen war nie jemand“, berichtet die Bewohnerin – und meint mit „denen“ Familie B. Seit Dienstag sorgt diese bundesweit für Schlagzeilen: Der inzwischen fast 70-jährige Vater soll seine Tochter jahrzehntelang missbraucht und mit ihr drei zum Teil schwerstbehinderte Kinder gezeugt haben. Zwei von ihnen starben bereits in jungen Jahren. Der Vater des vierten Kindes der Frau ist vermutlich der Bruder von Adolf B., also der Onkel der malträtierten Frau. Die heute 46-Jährige hat folglich ein Martyrium erlebt, bei dessen Schilderung viele das nackte Grauen erfasst.

Nicht aber die Willmersbacher: „Gewusst hat es jeder“, sagt die ältere Frau, „aber gemacht hat niemand etwas.“ Aus Furcht – aber nicht nur vor Adolf B. Die gesamte Familie sei rabiat gewesen, der Vater natürlich ganz besonders: „Wenn seine Frau irgendetwas gesagt hat, wurde sie immer grün und blau geschlagen.“ Trotzdem besuche sie ihn jetzt in der Untersuchungshaft.

Jeder, sagt die Nachbarin, habe mitbekommen, was in dem Einfamilienhaus vor sich geht: „Die Kinder sehen alle wie der Opa aus“, sagt sie und lacht, obwohl die Feststellung eher zum Weinen ist. Auf die Idee, zur Polizei zu gehen und die schrecklichen Verhältnisse publik zu machen, sei in dem Ort keiner gekommen: „Was hätten wir auch machen können“, fragt sie arglos. Dann wäre Adolf B. schließlich auf sie losgegangen.

Auch die Briefträgerin hat alles gewusst

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Aber jetzt, wo der dunkle Fleck unwiederbringlich ans Tageslicht gedrungen und der Dorffrieden ohnehin nicht mehr zu retten ist, hält sie mit ihren Äußerungen nicht länger hinterm Berg: „Die hätten lieber etwas arbeiten sollen“, empört sie sich, „dann wären sie auf andere Gedanken gekommen.“

Das gelte auch für die Tochter, das vermeintliche Missbrauchsopfer selbst: „Vielleicht hat sie es ja gewollt“, sagt die Frau und blinzelt dabei direkt in die Sonnenstrahlen, nur Vogelgezwitscher unterbricht die kurze Stille. „Und überhaupt“, fügt sie ein wenig kleinlaut hinzu, „beim Einkaufen haben sie uns doch immer freundlich gegrüßt.“

Die Dorfgemeinschaft hat Adolf B. also in Ruhe gelassen, seine vermutlichen Verbrechen gedeckt und vertuscht: „Wir wussten das alle, aber durften nichts sagen“, bestätigt auch die Briefträgerin. Ob es Adolf B. verboten hatte oder ob es gegen den Ehrenkodex verstoßen hätte, sagt sie nicht. Ihr sei nie etwas Ungewöhnliches aufgefallen. Mit der Ausnahme, dass der Vater und vermeintliche Täter – oder wie die Postzustellerin Adolf B. nennt – „der Herr“ mit der jungen Frau sehr oft unterwegs gewesen sei. Bei der heutigen Tour braucht sie jedenfalls nicht an dem Haus vorbei: „Für die ist nichts dabei.“

Auf zusätzliche Nachrichten jedweder Art kann die Familie derzeit wohl gut verzichten. Seit die Staatsanwaltschaft Anklage gegen den Vater erhoben hat, belagern Journalisten und Kamerateams den Ort. Polizisten drehen aus Angst vor Übergriffen in den Straßen ihre Runden. Viele Einwohner haben die Rollos heruntergezogen, sie wollen das Schreckliche in ihren Reihen noch immer nicht zugeben, schotten sich ab und schweigen.

Auch bei Familie B. wirkt es wie ausgestorben. Die hübschen weißen Gardinen sind fest zugezogen, der Holzschuppen ist verriegelt. Zwei rote Plastikstühle stehen auf dem betonierten Hof. „Da sitzen sie immer“, berichtet die ältere Frau. Es ist nur schwer vorstellbar, wie einzelne Familienmitglieder dort den Blick auf liebliche Hügel und weite Felder genießen. Dann aber plötzlich genau das: Die Ehefrau des Angeklagten nimmt ihren Platz ein, eine etwa 70-Jährige mit grauer Lockenfrisur. Zwei Jugendliche, offenbar Enkelsöhne, verlassen ebenfalls das Gebäude, der Ältere steigt aufs Mofa und meint kurz angebunden: „Wir wollen nichts sagen.“ Die Frau huscht schnell ins Haus zurück, und drückt die Tür hinter sich zu. So fest wie es nur irgendwie geht.