„Es könnten wieder mehr Flüchtlinge zu uns kommen“

27.10.2016, 19:32 Uhr

Frau Amtsberg, vergangenes Jahr kamen rund 890 000 Asylbewerber nach Deutschland, dieses Jahr sind es bisher nur etwa 210 000. Geht damit nun auch die Flüchtlingskrise zu Ende?

Luise Amtsberg: Das kann man so nicht sagen. Die Fluchtgründe der Menschen sind ja weiterhin da. Und es gibt keinen Flüchtling weniger, nur weil er nicht in Deutschland ankommt. Dass die Zahlen bei uns gesunken sind, hängt vielmehr mit einer europäischen Politik zusammen, die stark darauf setzt, die Probleme auf die Anrainerstaaten am Mittelmeer — wie Italien und Griechenland – zu übertragen. Das heißt, wenn es keinen Flüchtling weniger gibt und keine Fluchtursache bekämpft wurde, darf es kein Aufatmen geben. Das sollte uns zum Nachdenken anregen.

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Eine Situation wie wir sie im vergangenen Jahr erlebt haben, könnte sich also wiederholen?

Amtsberg: Da muss man sich die Frage stellen, ob der sogenannte Flüchtlings-Deal mit der Türkei hält. Ich glaube: Nein. Die Bundesregierung arbeitet zwar daran, mit weiteren Staaten ähnliche Kooperationen einzugehen, dennoch ist die Lage fragil: Wenn wir von anderen Staaten abhängig sind, die innenpolitisch und in ihrer Zusammenarbeit mit uns nicht die zuverlässigsten aller Partner sind, sind wir nicht über dem Berg. Gleichzeitig zeigt die Erfahrung, wenn eine Fluchtroute dicht gemacht wird, dann verlagern sich die Flüchtenden auf eine andere. Nun wird die Mittelmeerroute stärker frequentiert, auf diesem gefährlichen Weg werden wieder mehr Menschen sterben.

 

Das vergangene Jahr war ein schwieriges, das viele Behörden und Kommunen überforderte. Sind wir gewappnet, wenn wieder mehr Flüchtlinge kommen?

Amtsberg: In manchen Bundesländern werden jetzt schon Flüchtlingsunterkünfte dichtgemacht, Wohnungen, die für Flüchtlinge angemietet wurden, aufgegeben, Sozialarbeiter reduziert. Man stampft aus finanziellen Gründen diese Strukturen ein. Das halte ich für einen riesigen Fehler, wir müssen immer davon ausgehen, dass wieder mehr Menschen kommen und Schutz suchen. Wir haben nicht in der Hand, ob irgendwo ein Krieg ausbricht und wann Menschen fliehen. Wenn wir die Strukturen aufrechterhalten, wären wir aber vorbereitet — ein großer Unterschied zum vergangenen Jahr.

 

Diverse Asyl-Gesetze sind verschärft worden, das soll auch einer gewissen Abschreckung dienen. Funktioniert das?

Amtsberg: Ja, leider. Das Bild Deutschlands, das Flüchtlinge aufnimmt und voll und ganz zu seinem Grundrecht auf Asyl steht, hat sich schon gewandelt. Immer mehr Flüchtlinge merken, sie haben in Deutschland kaum eine Perspektive. Die Verfahren dauern wahnsinnig lange. Viele syrische Flüchtlinge warten darauf, wieder mit ihrer Familie zusammenkommen zu können — doch der Familiennachzug wurde beschränkt. Durch all das wird eine langfristige Integration unmöglich gemacht.

 

Also lautet nach Ihrer Ansicht die Devise: Abschreckung gegen Integration?

Amtsberg: Viele Menschen sind ja schon hier, ihnen werden aber Perspektiven durch Gesetzesverschärfungen verschlossen. Und das ist der schlechteste Weg in Integration. Menschen müssen das Gefühl haben, ankommen zu können, um sich auf die vielen Neuerungen, die Deutschland mit sich bringt — anderes System, auch andere Wertesystem — einlassen zu können. Das klappt nur, wenn sie sich in einem sicheren Umfeld wähnen. Und das ist für viele Flüchtlinge im Moment nicht der Fall.

 

Dennoch ist manchem in Deutschland nicht genug passiert. Nicht nur die AfD will eine restriktivere Flüchtlingspolitik, auch aus den etablierten Parteien hört man immer wieder scharfe Töne.

Amtsberg: Die AfD braucht keinen billigen Abklatsch ihrer selbst. Die Leute wählen im Zweifel das Original. Es bringt uns überhaupt nichts, wenn wir mit der CSU einen verlängerten Arm der AfD im Parlament haben. Oder die Kanzlerin ihre Politik nach AfD-Forderungen ausrichtet. Es ist schon richtig, dass Politik gewisse Ängste wahrnehmen muss und auch erklären muss, was sie mit ihrer Arbeit bezweckt. Aber sich an diesen Ängsten auszurichten, halte ich für grundfalsch. Immer wenn ein Thema in einer Gesellschaft polarisiert, bilden sich zwei Seiten stark heraus. Hier ist es auf der einen Seite die AfD, aber auf der anderen Seite haben wir zehn Millionen Ehrenamtliche, die sich um Flüchtlinge kümmern.

 

Was ist Ihr Rezept, der AfD zu begegnen?

Amtsberg: Es ist schon überraschend, dass man viele demokratische Freiheitsrechte und auch das Asylrecht wieder mehr erklären muss — Freiheiten, die über die letzten Jahrzehnte erkämpft wurden. Sich aber an der AfD auszurichten — das zeigen auch die Wahlergebnisse – bringt überhaupt nichts. Man muss stattdessen klare Kante zeigen. Wir müssen für unsere Demokratie werben und um ein Deutschland kämpfen, das weltoffen ist, die historische Gewachsenheit unserer Verfassung annimmt, versteht und darauf noch stolz ist.