Hasserfüllt und hypersensibel: Woran unsere Gesellschaft krankt

3.4.2021, 05:55 Uhr

Offensichtlich kein Interesse an Dialog: Eine Teilnehmerin der Querdenker-Demo in Lauf zeigt den Mittelfinger.    © NEWS5 / Bauernfeind, NN

Ostern – ein Fest der Verheißung: Der Frühling steht vor der Tür, die Monate der Dunkelheit sind überwunden. Das galt vor Corona. In diesem zweiten Lockdown-Frühjahr wollen wir ins Freie strömen und sollen es irgendwie nicht.

Die dazugehörige Kommunikation ist nicht erst mit der gekippten "Osterruhe" aus dem Ruder gelaufen. Wir hören einerseits die Rufe nach schnellen Exit-Schritten aus dem Lockdown, auf der anderen Seite wollen die radikalen Fürsorger von "No Covid" den Lockdown ausdehnen, bis die Infektionszahlen nahe Null sind. Doch sind es nicht diese extremen Positionen, die zu Orientierungslosigkeit führen? Zielmarken müssen erreichbar erscheinen, das weiß jeder, der Vorsätze fasst. Weniger Alkohol und Süßigkeiten, dafür mehr Sport, wir kennen es alle.

Stephan Grünewald, Psychologe, Trendforscher und Politik-Berater, führt regelmäßig Intensiv-Interviews für Studien des Rheingold-Marktforschungsinstituts durch. Gerade skizziert er eine Spaltung der Gesellschaft in zwei Hauptgruppen - und zwar in Folge der "forcierten Angstkommunikation". Sie habe bei manchen zu einer höheren Sensibilität geführt. Andere aber reagieren mit Abstumpfung nach dem Motto: Die Zahlen seien zwar schrecklich, aber man selbst fühle sich potenziell unverwundbar. Corona betreffe die anderen.

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Deutschland im "Wirklichkeitsschock"

Grünewald und seine Mitarbeiter warnen seit Jahren vor dieser Polarisierung. Die Silvesternacht in Köln, als Hunderte Frauen überwiegend von jungen Männern aus dem nordafrikanisch-arabischen Raum bedrängt wurden, habe Deutschland verändert. Grünewald sprach damals vom "Wirklichkeitsschock", der über das Land hereingebrochen war. Diskussionen wurden schwierig: Wer sich kritisch zu Flüchtlingen äußerte, stand schnell in der rechten Ecke, wer sich weiterhin für Einwanderung einsetzte, galt als blauäugiger Gutmensch. Das Debattenklima wurde giftig, boshaft und aggressiv. Seither werden in bis dahin nicht gekannter Schärfe online und offline Politiker und Journalisten, Behördenmitarbeiter, Rettungskräfte und Polizisten angepöbelt und attackiert.

Und heute? Neben Hass erleben wir moralisierende Hypersensibilität und auf beiden Seiten stehen Menschen, deren Annahme lautet: Es gibt nur eine Wahrheit. Und die habe ich. Und so rauscht der Fahrstuhl samt Beleidigungen und Attacken auf der einen Seite rasant in den Keller, und auf der anderen Seite rast er in absurde Höhen, samt zunehmend aggressiver Debatten gegen mögliche Diskriminierungen.

Seltsame Debatte um "Mohren"-Apotheken

In Dänemark soll es kein "Eskimo-Eis" mehr geben, hier keine "Mohren"-Apotheken, obgleich sich der Begriff historisch von den Mauren ableitet, damals führend in der Medizin. Und wie politische Korrektheit schier zur Karikatur werden kann, zeigt auch die Debatte um "kulturelle Aneignung": Der (weißen) Musikerin Katy Perry wurde vorgeworfen, Dreadlocks zu tragen, in Erfurt wurden Eltern von den Mitarbeitern einer Kindertagesstätte gebeten, ihre Kinder zu Fasching nicht mehr als Indianer zu verkleiden, zu groß seien die politischen Fragen dahinter.



Was gestern unverdächtig war, löst heute einen Shitstorm aus, auch dies hemmt den Mut zum Haltung. Vielleicht will es auch deshalb das Siebzehner-Gremium aus Ministerpräsidenten und Kanzlerin irgendwie jedem Recht machen?

Dabei lebt die Demokratie lebt von Kontroversen. Doch es ist schwierig, sich mit Anfeindungen statt mit Argumenten auseinanderzusetzen. Eine Autorin dieser Zeitung musste sich, nur weil sie einen Kalender mit Fotos halbnackter Frauen sexistisch nannte, an den Kopf werfen lassen, sie sei selbst wahrscheinlich hässlich. Einem Politikredakteur wurde gewünscht, dass dessen Frau hoffentlich sterilisiert sei, damit weiterer dummer Nachwuchs ausbleibe, in anderen E-Mails heißt es schon im Betreff LÜGENPRESSE.

Damit kein Missverständnis entsteht: Natürlich ist die Gegenrede immer Teil der Meinungsfreiheit. Und ob Klimawandel, Migration oder Corona – sicher braucht es manchmal auch drastische Worte gegen das so langweilig wirkende Abwägen, Überlegen, Differenzieren. Doch ein Menschenrecht auf populistische Vereinfachung gibt es nun mal nicht.

"Publizieren wird zur Mutprobe"

"Publizieren wird zur Mutprobe" nennt sich eine Studie der Universität Bielefeld. Das Institut für Interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung hat sich bereits 2016, eine aktuellere Studie gibt es nicht, mit der Wahrnehmung hasserfüllter Reaktionen des Publikums befasst. Zwei Drittel der befragten Journalisten aus allen Sparten (Radio, TV, Print und Online) schildern, unter hasserfüllten Angriffen zu leiden.

Mehr als 80 Prozent befürworten die Aufklärungskampagnen gegen Hate Speech und strafrechtliche Verfolgung, 18 Prozent lehnen es dabei ab, dass Kollegen mit ihren Erfahrungen an die Öffentlichkeit gehen. Die Gefahr, dass echtes Bemühen um Dialog schwieriger wird, liegt auf der Hand. Wer am Ende wirklich dumm da steht? Die Meinungsvielfalt, unsere Demokratie, die auf Ausgleich und Kompromiss angelegt ist.

Zunehmende Ungleichheit

Thomas Saalfeld, Inhaber des Lehrstuhls für vergleichende Politikwissenschaft an der Universität Bamberg, beobachtet diese zunehmende Polarisierung der Gesellschaft in den meisten demokratischen Industriegesellschaften. Die Wissenschaft sieht tiefergehende gesellschaftliche Ursachen: etwa die zunehmende Ungleichheit zwischen den Einkommen, zwischen beruflicher Sicherheit und prekärer Beschäftigung und zwischen Stadt und Land.

Mehrere Forscher, so etwa auch das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, weisen auf die Gefahr hin, dass der unzufriedene Teil der Bevölkerung anfällig für populistische Einstellungen ist – doch gerade zeigen die ersten Landtagswahlen in diesem Superwahljahr, dass zumindest die Rechtspopulisten (noch) nicht profitieren. Und Thomas Saalfeld hält es ohnehin für zu kurz gegriffen, nur auf der politischen Ebene Lösungen zu erwarten.

"Weißer alter Mann, hysterische Feministin"

Gibt es zu Ostern doch noch, wenn keine frohe Botschaft, so doch eine Hoffnung? Saalfeld glaubt, die Polarisierung kann überwunden werden, "wenn die zivilgesellschaftliche Organisationen die Menschen wieder miteinander ins Gespräch bringen. Vereine, Gewerkschaften, Parteien oder auch Kirchen könnten mehr und offenere diskursive Arenen schaffen, in denen Konflikte ausgetragen werden".

Die Klischee-Schubladen (weißer alter Mann, krimineller Flüchtling, frustrierter Ostdeutscher, hysterische Feministin) können in einem echten Gespräch geschlossen bleiben. Erst mal abwarten. Und Luft holen. Das können wir alle, wenn wir richtig streiten wollen.