Kurdenvertreter im Interview: "Wir sind hochgradig emotionalisiert"

14.10.2019, 05:56 Uhr

In zahlreichen deutschen Städten demonstrierten in den vergangenen Tagen Kurden gegen den Einmarsch der Türkei in Nordsyrien. © Ole Spata/dpa

Die türkische Intervention in Nordsyrien betrifft längst nicht nur die Menschen vor Ort, auch in Deutschland reißt der Konflikt Wunden auf. Wie Kurdischstämmige die Situation wahrnehmen und warum sie auch um den Frieden auf deutschen Straßen fürchten, schildert Cahit Basar, Generalsekretär der Kurdischen Gemeinde Deutschland e.V.

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Cahit Basar: Das steht zu befürchten. Zwar gehen wir auf die Straße, um für demokratische Werte zu demonstrieren und appellieren an unsere Mitglieder, friedlich zu bleiben. Aber, das muss ich selbstkritisch sagen, die Kurden sind auch in diesem Land hochgradig emotionalisiert. Unserer Geschichte, aber vor allem der jüngsten Entwicklung wegen. Wir glaubten die vergangenen Jahre in unserem Kampf gegen den Islamischen Staat für unsere gemeinsamen Werte gekämpft zu haben, nun hat uns US-Präsident Trump der Willkür von Erdogan überlassen. Was in Nürnberg den Anlass zum Streit gegeben hat, weiß ich nicht. Aber wenn, was wir leider immer wieder erleben, bei einer Demonstration von einzelnen Provokateuren zum Beispiel der Wolfsgruß, das Zeichen der nationalistischen Türken, gezeigt wird, können die Gefühle überkochen. Auch die Hitzköpfe unter den Kurden müssen lernen, dass für Frieden zu demonstrieren auch heißen muss, konsequent friedlich zu bleiben. 

Cahit Basar, Jahrgang 1966, ist in Deutschland geboren und aufgewachsen und unterrichtet Politik und Geschichte an einem Gymnasium in Köln. Die Kurdische Gemeinde vertritt die Interessen der hierzulande geschätzt 1,2 Millionen Kurden, die aus der Türkei, dem Irak, Syrien und dem Iran stammen. © Foto: privat

Sind es seitens der türkisch-stämmigen Gemeinschaft Ihrer Wahrnehmung nach nur die sogenannten Abgehängten, die jetzt im neu entflammten Nationalismus aufgehen?

Basar: Mitnichten. Wir bekommen Drohschreiben von allen Bevölkerungsschichten, vom Angestellten bis zum Anwalt. Eine Medizinstudentin schrieb kürzlich, unser Vorsitzender hätte als Baby in der Wanne ertränkt gehört. Daran sieht man, welcher Hass in manchem Menschen wohnt.

Wie erklären Sie sich das?

Basar: Das hat auch mit der Informationspolitik zu tun. Würden Sie nur einen Tag die türkisch kontrollierten Staatskanäle schauen, Sie würden nicht mehr mit mir sprechen wollen. Hier werden die Kurden pauschal als Terroristen hingestellt, als Gefahr für die Türkei. Während wir hier für den Frieden auf die Straße gehen, wurde beim Freitagsgebet von Ankara vorgegeben, in vielen Moscheen hierzulande für den "ruhmreichen Sieg der türkischen Armee" zu beten. Das sind zwei nicht zu vereinbarende Ansätze.

Sie haben Kontakt zu Kurden in Nordsyrien. Wie ist die Situation vor Ort?

Basar: Wir hören von vielen, dass sie bereuen, nicht schon vor Jahren das Gebiet verlassen zu haben. Wo sollen sie jetzt auch hin? Nach Norden in die Türkei ausweichen können sie nicht, in den Nordirak ebensowenig – und im Süden sitzt Assad. Viele fliehen mit Kindern und Großeltern gerade in Richtung der Berge, doch der Winter naht. Ein einfaches Hausen auf offenem Feld ist dann auch nicht mehr möglich. Wer es schafft, klar, der wird irgendwie versuchen in den Westen zu fliehen.

Wie sehr stärken Sie Solidaritätsbekundungen?

Basar: Neben viel Hass erreichen uns täglich aufbauende Schreiben. Das ist sehr wichtig, wir tragen das auch unseren Mitgliedern weiter, die auf die Straßen gehen. Allerdings verurteilen die Kirchen den Konflikt nicht klar, das bedauern wir sehr. Schließlich sind nicht nur Kurden bedroht. Es sind auch religiöse Minderheiten wie die Christen.



Die Kurden waren maßgeblich an der Zerschlagung des Islamischen Staates (IS) beteiligt, haben unter anderem die Gefängnisse gesichert. Was passiert nun, da viele fliehen?

Basar: Berechtigte Frage. Wir haben nicht mehr die Kapazität, die Gefängnisse zu sichern, geschätzt sitzen darin rund 11.000 IS-Kämpfer. Machen wir uns nichts vor, die Bedrohung für den Westen wird so klar steigen. Manch ein Kämpfer könnte sich der Invasionsgruppe anschließen – denn genau das, eine Invasion, ist dieser Einmarsch – und dann grausame Rache üben. Und das nicht nur in Nordsyrien. Sie werden auch ins Ausland gehen – und da gehören wir zu den Zielen.

 

Wie sollte sich Ihrer Meinung nach die Internationale Gemeinschaft in diesem Konflikt verhalten?

Basar: Ein Stopp der Waffenlieferungen ist ein erster und wichtiger Schritt. Weitere Schritte von Seiten der EU könnten ein Pausieren beziehungsweise eine Aufkündigung der Zollunion sein. Außerdem hielte ich für sinnvoll, sämtliche Finanzhilfen, die im Rahmen der Beitrittsverhandlungen zur Heranführung der Türkei an die EU gezahlt werden, einzufrieren und die Beitrittsverhandlungen auszusetzen.