Paradies mit Fehlfarbe

3.8.2018, 08:00 Uhr

Schon bei der Einfahrt in die kleine Adriastadt kurz vor Pescara fühlte ich mich wie im falschen Film, und während meine Freundin auf dem Beifahrersitz mit einiger Euphorie "Wir sind da!" rief, wollte ich nur schnell wieder weg.

Denn hier gab es einfach: nichts. Kein historisches Zentrum, keine Museen, nicht einmal eine schöne Piazza. Stattdessen eine stark befahrene Hauptstraße, an der sich schmucklose Hotels, Geschäfte und Bars aneinanderreihten. Noch dazu wurde unsere Mietwohnung regelmäßig durchgeschüttelt. Die nachts von schweren Güterzügen befahrene Bahnstrecke verlief direkt vor dem Haus. Aber gut, wenigstens in diesem Punkt haben die heftig kreisenden Hormone für eine gewisse Unempfindlichkeit gesorgt.

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Das war im Sommer 2004. Ich kannte meine spätere Frau, die Mitte der 1990er nach einer Reise mit dem Nachtzug in Pineto hängen geblieben war und mir so viel von diesem Ort vorgeschwärmt hatte, seit einem halben Jahr und Italien schon viel länger. Dazu muss ich vielleicht noch sagen, dass ich dort Verwandtschaft habe, fast ein Jahr lang in dem Land studieren durfte und nicht mehr zählen kann, wie oft ich in meinem Leben über den Brenner gefahren bin.

Der Reiz einer Kleinkunstbühne

Dabei neigte und neige ich nicht dazu, Italien zu verklären. Meine Cousins in Rom brauchten Jahre, um nach dem Studium einen festen Job zu finden. Die Bürokratie ist die Hölle, der politische Betrieb mit dem oft haarsträubenden Spitzenpersonal zum Verzweifeln. Daran ändern leider weder gutes Essen noch die vielen paradiesischen Ecken etwas.

Pineto mit seinen rund 13 000 Einwohnern hatte, wie gesagt, nicht einmal Schönheit zu bieten, von einem kilometerlangen Pinienhain zwischen Bahnlinie, Strand und Meer vielleicht einmal abgesehen. Aber das immerhin vom Massentourismus verschonte Kaff begann für mich trotzdem ziemlich schnell zu glänzen, mit den Qualitäten einer Kleinkunstbühne und ihren sympathischen Darstellern.

Am ersten Morgen ging es in der sich früh aufbauenden Julihitze zum Frühstück ans Meer. In der Strandbar "La Conchiglia" wartete Besitzer Pepe hinter dem Tresen. Ein längeres Gespräch, Fragen nach Deutschland und dem FC Bayern, Gelächter. "Was kriegst du für die beiden Cappuccini und die Hörnchen, Pepe?", fragte ich. "Niente. È un regalo dello stato italiano", sagte er und verzog keine Mine über den eigenen Witz: "Nichts, das ist ein Geschenk des italienischen Staates." Auf dem schmucklosen Marktplatz sprach mich ein älterer Herr an, der dort unter seinem ausgebleichten, grünen Sonnenschirm Gemüse aus seinem Garten verkaufte und mir schließlich über eine Stunde hinweg seine ganze Familiengeschichte erzählte, bis hin zu dem seit Generationen vererbten (geheimen) Rezept für das beste Lammragout der Welt — das natürlich seine Frau kochte.

Es folgten Roberto, der mir mit der Maschine eine sehr kurze Kurzhaarfrisur verpasste ("un taglio deciso", ein "entschlossener Schnitt", wie er meinte) und nebenbei alles von mir, meiner Familie, meinem Beruf wissen wollte. So ähnlich wie die Verkäuferin in der Pasticceria Santomo. So wie der Fischhändler. So wie die Kassiererin in dem kleinen Supermarkt, so wie . . .

Und dann tauchten da noch Lina und Domenico auf, die damals noch ein kleines Hotel führten und inzwischen auch ein Apartmenthaus nebenan gebaut hatten. Domenico zeigte uns stolz die kleine Dachgeschosswohnung mit Balkon zum Strand (die Oberleitung der Bahnlinie ein paar Meter weiter sieht man eigentlich nur, wenn man vorne an der Brüstung steht), wo früh morgens die Fischer ihre Netze ausklopften und wir Pepe dabei zusehen konnten, wie er mit seinem kleinen, roten Traktor den Sand zwischen seinen Sonnenschirmreihen sehr akkurat glättete.

Man ahnt, wie die Geschichte weitergeht. Seither ging es jedes Jahr in dieses schmucklose, dieses wunderbare Pineto, von zwei Babypausen abgesehen. Unsere beiden Söhne, inzwischen sechs und fast 13 Jahre alt, sind in diesen italienischen Mikrokosmos hineingewachsen, haben dort zum ersten Mal das Meer gesehen, eine seltsame Vorliebe für Minzeis entwickelt, kennen dank der Bahnlinie jede italienische Zuggattung und bewegen sich in der Stadt so selbstverständlich wie daheim in Nürnberg-Rehhof. Pepe hat sie auf seinem Traktor mitgenommen, den beiden unzählige Runden am Tischkicker ausgegeben und wird es weiterhin tun. Sein Sohn Cesare, 2004 selber noch Kind, nimmt uns jetzt zwischendurch abends mit dem Ruderboot aufs Meer hinaus, wo er seine Tintenfischreusen kontrolliert.

Von dort aus kann man auch das Gebirge des Gran Sasso sehen, an dem sich übrigens gerne Wolken festkrallen, die vor allem an Pfingsten in Pineto für tagelangen Starkregen sorgen können - während es 20 Kilometer links und rechts davon sonnig und trocken bleibt. Aber gut. Perfekt ist doch auch wirklich langweilig.