Renaissance der Rücksicht

28.5.2020, 12:13 Uhr

Solidarität, Achtsamkeit, Verzicht, Wertschätzung – die Gedanken vieler Leserinnen und Leser kreisten in ihren Zusendungen zu unserer Serie "Zeitenwende" um Begriffe, die ein rücksichtsvolles Zusammenleben der Menschen beschreiben. Ob die Corona-Krise unsere Gesellschaft wirklich zu einem Umdenken veranlassen wird? Viele blieben skeptisch, manche – wie beispielsweise Leserin Christiane Carini (Jahrgang 1947), sind zuversichtlicher:

"Insgesamt erlebe ich an vielen Stellen, dass die Menschen entspannter und besser gelaunt sind, da offensichtlich der Druck, am besten überall gleichzeitig sein zu müssen, vorher doch ein wenig zu groß war. Auch hier könnten wir versuchen, uns die Gelassenheit zu erhalten."

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Aus dem Jahr 1987 stammt das bekannte Zitat Margaret Thatchers, mit dem die konservative britische Premierministerin so etwas wie den Slogan des damals zum internationalen Siegeszug antretenden Neoliberalismus lieferte: "There is no such thing as society." So etwas wie Gesellschaft gibt es nicht. Jeder ist zuerst einmal für sich selbst verantwortlich. Das Leben – eine große Individual-Glücksschmiede.

Es wäre zynisch zu sagen, man müsse dem Coronavirus dankbar sein, dass es nach 33 Jahren global aufgezeigt hat, wie falsch die apodiktische Aussage der Eisernen Lady damals war. Nur als Gesellschaft war und ist der Kampf gegen die Pandemie zu gewinnen. Und die Seuche forderte dort den höchsten Preis, wo man – wie in Thatchers Großbritannien – die Entsolidarisierung und Privatisierung des Gemeinwesens weit vorangetrieben oder – wie in den USA – traditionell schon immer darauf gesetzt hatte, dass sich am Ende jeder selbst hilft.

Deshalb darf, wer noch nicht jeden Glauben in die Lernfähigkeit des Menschen verloren hat, darauf hoffen, dass wir uns als soziale Wesen wiederentdecken. Auch wenn die lauten Freiheits-Rufe der corona-kritischen Demonstranten schon wieder verdächtig nach der alten Überbetonung des Ich klingen.

Veränderungen fangen im Kleinen an. Deshalb kann man einigen Randerscheinungen des Shutdowns durchaus Bedeutung zumessen. Etliche Leserinnen und Leser beschreiben, wie wohltuend sie den neuen Umgang miteinander empfinden. Tatsächlich lernten die Deutschen plötzlich, sich in Warteschlangen geduldig anzustellen. Man ließ sich gegenseitig bereitwillig den Vortritt. Vor allem in den ersten Wochen der Ausgangsbeschränkungen kehrte zudem eine merkliche Stille und Entschleunigung im Alltagsleben ein. Selbst auf den Straßen, wo seit ewigen Zeiten eigentlich wieder Platz zum Rasen gewesen wäre, ging es deutlich entspannter zu als sonst.

Die Menschen nahmen mehr Rücksicht aufeinander. Nicht weil es "von oben" so angeordnet wurde, sondern wohl eher, weil sie spürten, dass der Ausbreitung der Infektion nur so beizukommen war. Und so gut wie überall bildeten sich Nachbarschaftshilfe-Initiativen. Man kümmerte sich, kaufte füreinander ein, stand sich bei. Für alle sichtbar zeigte sich in der Hochzeit der Corona-Krise eine Haltungs- und Verhaltensänderung, die der Soziologe Heinz Bude von der Universität Kassel in seinem Buch "Solidarität: Die Zukunft einer großen Idee" schon ein Jahr zuvor beschrieben hatte.

Dieses neue Verständnis von Solidarität, das nichts mit der "Kampfsolidarität" der Gewerkschaften und alter linker Politik zu tun habe, gründet sich laut Bude auf "die Erfahrung der Verwundbarkeit der einzelnen Person und seiner Verantwortung". Von der "Bewährung in der Gemeinschaftlichkeit" spricht Bude und fühlt sich angesichts des Verhaltens der Menschen in der Krise bestätigt: "Die Idee, der Einzelne könnte sich retten, ist Unsinn."

Und noch einer anderen Einsicht wünscht man, dass sie über die Corona-Zeit hinaus das Gesellschafts- und Politikverständnis verändern möge. Die im Neoliberalismus systematisch befeuerte Verteufelung des Staats als geldgieriger und freiheitsraubender Moloch erweist sich in der Krise als kurzsichtig und inkonsistent. Überall ist der Staat plötzlich gefordert. Mit Personal und vor allem mit der Bereitstellung riesiger Geldsummen. Nach Nothilfe und Konkunkturprogrammen rufen jene am lautesten, die zuvor dem Staat gern Schlankheitskuren verordnet hätten.

Plötzlich scheint bis in liberale Kreise hinein wieder ein Konsens möglich, dass staatliche Vorsorge in vielen Bereichen mehr Sicherheit bietet als eine nur auf schnellen Profit ausgerichtete Privatisierung von Gemeinschaftsaufgaben. Märkte sind kurzsichtig, weil ihre Akteure nicht für Weitsicht und Krisenvorsorge belohnt werden.

Viele Schwüre wurden in den letzten Wochen abgelegt, dass künftig gesellschaftlich wertvolle Arbeit entsprechend honoriert werden müsse. Aus dem Homeoffice heraus schämt man sich schnell ein bisschen, wenn deutlich wird, dass Pflegekräfte in Altenheimen und in Kliniken während der Pandemie für eher schlechte Bezahlung tapfer am Patientenbett die Stellung halten und dabei im schlimmsten Fall sogar ihr Leben riskieren. Jeder muss aber wissen: Eine wirkliche Aufwertung sozialer Arbeit ist nur möglich, wenn wir alle akzeptieren, dass der Staat dafür bei uns Geld einsammelt. Mit Lippenbekenntnissen und symbolischem Balkon-Applaus streicheln wir nur die eigene Seele.

Mancher jetzt mehrheitsfähig erscheinende Kurswechsel wird mit anderen Zielen zudem schwer vereinbar sein. Viele Menschen haben in der erzwungenen Corona-Pause durchaus Gefallen am Konsumverzicht gefunden oder hinterfragen ihr eigenes Mobilitätsverhalten. Diese Selbstkritik ist höchst vernünftig. Wenn das Geld nur im Sparstrumpf landet, werden wir aber Gesundheits- und Bildungssystem nicht krisen- und zukunftsfest machen können. Wer gesellschaftlichen Fortschritt von der Konsumlogik unseres Systems abkoppeln will, der muss den Kapitalismus in Frage stellen.

Weniger kompliziert und vertrackt sind da andere Erfahrungen der Krise. Im Kontaktverbot wurde vielen Menschen klar, was die Qualität von Leben wirklich ausmacht. Als soziale Wesen wollen wir uns begegnen. Wir wollen nicht nur miteinander feiern, sondern Kinder und Jugendliche sehnen sich zur eigenen Überraschung nach dem Begegnungsort Schule, und so mancher, der seit Wochen vom heimischen Küchentisch aus arbeitet, merkt, wie wichtig und unersetzlich ihm doch die gewohnte Arbeitsumgebung ist.

Denn auch das ist Teil der Corona-Lehre: Die Krise ist nicht nur Inspiration für Veränderung, sie macht auch den Wert vermeintlicher Selbstverständlichkeiten deutlich.