Sechs Monate nach "Charlie Hebdo": Die Angst bleibt

7.7.2015, 06:00 Uhr

Der Islamist Amédy Coulibaly hatte dort mehrere Geiseln genommen und vier Menschen erschossen. Seither traute sich Naccache nicht, mit ihrem Kind dort einkaufen zu gehen. Nun jedoch hat die 37-jährige Mutter beschlossen, „aufzuhören, darüber nachzudenken“. In dem Geschäft, das nach dem Anschlag zunächst geschlossen blieb und erst am 15. März wieder öffnete, steigt bei ihr dennoch die „Furcht“ hoch. „Ich will rasch einkaufen und dann gehen, es ist immer noch ein kleiner Stress - wenn ich hineinkomme, erinnere ich mich daran, was passiert ist.“

Der Islamist Coulibaly war am 9. Januar, zwei Tage nach dem Anschlag auf die Satirezeitung „Charlie Hebdo“ mit zwölf Toten, in den jüdischen Supermarkt an der Porte de Vincennes im Osten von Paris eingedrungen. Er erschoss vier seiner Geiseln, bevor die Polizei den Supermarkt am Ende stürmte. Coulibaly wurde fast zeitgleich mit den beiden Attentätern von „Charlie Hebdo“ von der Polizei erschossen, die sich im Norden von Paris nach ihrer zweitägigen Flucht in einer Druckerei verschanzt hatten.

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In dem jüdischen Supermarkt gibt es kaum noch Spuren dieser dramatischen Ereignisse vom Januar. Am Eingang aber sind zwei Polizisten postiert, hinter Barrieren, die immer noch mit Blumen und Botschaften der Solidarität versehen sind. Dahinter haben sich die Räumlichkeiten geändert: Die Fassade wurde weiß gestrichen, das Schild neu entworfen, die Regalreihen im Innern wurden erweitert und neu strukturiert.

„Wir haben versucht, dem Geschäft wieder Leben einzuhauchen - wenn man das so sagen kann“, erläutert einer der Geschäftsführer, Laurent Mimoun. „Den Spuren, den Einschlägen der Kugeln, allem, was an das Attentat erinnern kann, wollten wir keinen sakralen Charakter verleihen.“ Die Kunden seien nach und nach zurückgekommen. „Es wird fast wieder normal, auch wenn nichts wieder so sein wird wie zuvor.“

"Das geht ans Herz, an die Nieren"

Für viele Kunden ist der Schrecken des Anschlags aber noch längst nicht vergessen. „Das geht ans Herz, an die Nieren“, sagt William Dukan bei seinem Einkauf. „Das ist nicht unbedingt Angst, eher ein Schaudern.“ Der 28-jährige Vermögensverwalter kam vor dem Anschlag „ein- bis zweimal pro Monat“ in den Laden. Seither kommt er „zweimal pro Woche“, um den Islamisten zu zeigen, „dass wir immer noch hier sind, dass sie nicht gewonnen haben“.

Mit Ausnahme eines Angestellten sind alle Mitarbeiter des Supermarkts Hyper Cacher, die am Anschlagstag im Dienst waren, danach nicht an ihren Arbeitsort zurückgekehrt. „Erstaunlicherweise hatten wir enorm viele Spontanbewerbungen“, berichtet Geschäftsführer Mimoun. So wie die von Beverly Scemama, die zuvor in einer Vorschule gearbeitet hatte. Die Stelle gab sie auf, um in dem Laden zu arbeiten, in dem ihr Freund Yohan während der Geiselnahme starb.

„Es ist nicht immer einfach“, erzählt die 20-jährige Kassiererin. Abgesehen von der Erinnerung an ihren Freund, an den sie „jeden Tag“ denkt, wollen auch die Kunden mit ihr jeden Tag über die fürchterlichen Geschehnisse vom Januar sprechen. „Und dann, vor ein paar Wochen, kam ein Mann und drückte mir einen Zettel in die Hand mit der Aufschrift 'Ich bin nicht Charlie' und 'Fuck System'“. Kassiererin Scemama gibt zu: „Die Angst bleibt, aber man schafft es, mit ihr umzugehen.“