Früher bei 90 Prozent

Sinkflug auf Bundesebene: Das Ende der Volksparteien naht

13.6.2021, 06:00 Uhr

Foto: imago images/ Christian Ohde/ Montage: Dominik Klemm © imago

Am Ende war es wohl nur ein Aprilscherz: Voltswagen wolle sich der Wolfsburger Autokonzern Volkswagen künftig nennen, hieß es in einer Pressemitteilung für den US-amerikanischen Markt. Weil der 1. April nicht weit war, verschwand die Idee bald wieder in den Schubladen – obwohl durchaus ein bisschen Ernst im Spiel war. Auch bei den Volksparteien ist das so. Gibt es diese Gattung überhaupt noch? Eine durchaus legitime Fragestellung.

Wer gerne auf Wahlstatistiken blickt, kann nur zu einer Antwort kommen: Das Zeitalter der Volksparteien neigt sich – zumindest auf Bundesebene – dem Ende zu. Daran ändert auch das starke Abschneiden der CDU jüngst in Sachsen-Anhalt nichts. Rückblick: Für die von Stabilität geprägte Geschichte der BRD waren drei Volksparteien entscheidend. CDU, CSU (die als Union im Bundestag eine Fraktion bilden) und SPD. Den Höhepunkt dieser jahrzehntelangen Erfolgsgeschichte markieren die Bundestagswahlen 1972 und 1976: Aus heutiger Sicht unfassbare 90,7 beziehungsweise 91,4 Prozent aller abgegebenen Wählerstimmen entfielen damals auf Sozialdemokraten und Union.

Und heute? "Volkspartei ist ein nostalgischer Begriff, ein Attribut aus der bundesrepublikanischen Vergangenheit", urteilt Heribert Prantl, einer der bekanntesten Kommentatoren des Landes. Tatsächlich setzte mit dem Aufkommen der Grünen ab den 80er Jahren eine Erosion ein, die nach Ansicht vieler Demoskopen und Parteienforscher noch nicht beendet ist.

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Halbiert binnen 50 Jahren

Der aktuelle Zwischenstand liegt bei 52,4 Prozent. So viel, besser: so wenig, Prozentpunkte holten Union und SPD bei den Bundestagswahlen 2017. Für die Wahl am 26. September prophezeien Umfragen einen weiteren Tiefpunkt – der bei 45 Prozent des Stimmenanteils liegen könnte. Das entspräche dann einer Halbierung der Ergebnisse binnen eines halben Jahrhunderts.



Jenseits der betroffenen Parteizentralen müssen die Alarmglocken deshalb nicht schrillen: Unsere repräsentative Demokratie lebt – anders als in den USA oder in Großbritannien – nicht von zwei starken Polen. Vielmehr sind den Farbkombinationen in deutschen Parlamenten kaum Grenzen gesetzt. Die gute Nachricht lautet: Unsere Demokratie funktioniert mit allen erdenklichen Bündnissen.

14 unterschiedlich zusammengesetzte Landesregierungen belegen eindrucksvoll, dass Stabilität auch in Vielparteienbündnissen möglich ist. Vier Große Koalitionen stellen eine Landesregierung. In Thüringen ist es die Linke, die den Ministerpräsidenten stellt, die mit Sozialdemokraten und Grünen eine Regierung bildet, andernorts gibt es Jamaika-Bündnisse (Schwarz-Gelb-Grüne), Ampelkoalitionen (Rot-Gelb-Grün) oder R2G-Koalitionen (Rot-Rot-Grün oder Rot-Grün-Rot). Das "Ende der Beständigkeit" hat Matthias Jung von der Forschungsgruppe Wahlen ausgerufen und damit die jüngsten Veränderungen gut zusammengefasst. Nichts ist mehr, wie es einmal war. Das fängt bei den Milieus an, die Parteien ansprechen wollen. Die Arbeiterklasse, einst SPD-Stammklientel, splittet sich seit langem in viele Wählergruppen auf.

Es gibt viele solcher Beispiele. Allen ist eines gemein: Feste Bindungen schwinden, die Wählerinnen und Wähler vergeben ihre Stimme nicht mehr ein Leben lang an dieselbe Gruppierung – früher war das durchaus üblich. "Die Formen politischer Beteiligung und Loyalität haben sich verändert. Den jüngeren Bürgern erscheinen Volksparteien als Endmoränen eines vergangenen Jahrhunderts", konstatierte Professor Wolfgang Merkel von der Berliner Humboldt Universität bereits vor fünf Jahren in einer Analyse für die FAZ.

Sie schmelzen wie die Gletscher

Ganz offenbar geht es den Volksparteien in der Bundesrepublik so wie den Gletschern in den Alpen: Sie schmelzen buchstäblich dahin. "Das Zeitalter der Volksparteien kommt zu seinem Ende, diese sind gesellschaftlich, politisch und historisch überholt", stimmte der Parteienforscher Peter Lösche bereits vor einem Jahrzehnt den Abgesang an. Und liegt damit richtig: Denn die alten Schlagwörter ("soziale Marktwirtschaft" für die Union und "demokratischer Sozialismus" für die SPD) sprechen nurmehr Hochbetagte an. Da mögen die jungen Kräfte bei Union und SPD noch so sehr wettern, dass ihre Zeit schon wieder kommen würde: Es gibt dafür keinen Beleg.

Das schleichende Schrumpfen liegt auch an dem kaum mehr erkennbaren Unterschied zwischen Union und SPD. Mit jeder GroKo haben die Akteure sich weiter angenähert. Erst zum Ende einer Legislaturperiode rücken die Unterscheidungsmerkmale in den Fokus. Das ist durchsichtig. Viele Wähler wissen, dass es in der Mitte des politischen Spektrums (zu) eng geworden ist.

Das alte Rechts-Links-Koordinatensystem hat ausgedient. Und natürlich besetzen teils neue, teils etablierte Akteure, sehr offensiv und teilweise auch exklusiv bestimmte Themenblöcke. Zuwanderung (AfD), Besserverdienende (FDP), Klima (Grüne) und schlechter Gestellte (Linke). Dahinter stehen jeweils neue und starke, teilweise auch wachsende Milieus. Es ist also kein Zufall, dass wir auf ein Sechsparteiensystem zusteuern. Doch sind die Grünen wirklich noch eine Milieupartei? Oder entsteht da eine neue Volkspartei? Oft ist zu lesen, dass die aus der Friedensbewegung hervorgegangene Umweltpartei das Lebensgefühl moderner Menschen treffe, vor allem in den urbanen Räumen.



Aber reicht das für den Nimbus Volkspartei? Zumindest haben die Grünen aufgeräumt mit dem scheinbar unüberwindbaren Antagonismus zwischen Ökologie und Ökonomie. Beides lässt sich vereinbaren und sogar in ein Parteiprogramm gießen. SPD und Union bemühen sich mittlerweile erkennbar, diese Brücke ebenfalls zu schlagen. Doch Grün gilt als das Original. Und könnte – weitere Wahlerfolge vorausgesetzt – den Platzhirschen von Union und SPD somit auch dauerhaft den Rang als stärkste Partei ablaufen.

Eher eine Bewegung

Dabei werben die Grünen lediglich mit einer Verheißung: Unser Planet soll lebenswert bleiben. Natur und Umwelt sind die Kernthemen, die ein junges Publikum ansprechen. Warum, das liegt auf der Hand: Weil die Grünen ein Bedürfnis und keine Ideologie befriedigen wollen, sind sie erfolgreich. Oder, so formuliert es der Zukunftsforscher Daniel Dettling: "Politik ist in der Netzwerkgesellschaft nicht mehr eine moralische Glaubensfrage, sondern eine Frage des Stils und der Methode: spielerisch und pragmatisch." Parteien müssten deshalb "jünger, kreativer, freundlicher und digitaler sein".

So gesehen sind die Grünen eben keine Volkspartei im klassischen Sinn, vielmehr eine Bewegung. Eine mit Zulauf. Die alten Volksparteien lassen indes Federn. Es ist ein bisschen wie beim Autokonzern VW und der Umbenennung: Union und SPD sollten die eigenen Ansprüche überdenken und vor allem die Ansprache. Denn den Volksparteien läuft das Volk davon. Und das ist kein Aprilscherz.