Türkei beginnt Militäroffensive in Nordsyrien - Erste Tote

9.10.2019, 19:19 Uhr

Die Türkei hat am Mittwoch eine Militäroffensive in Nordsyrien begonnen. Es gab bereits erste Todesopfer. © Lefteris Pitarakis, dpa

Mit Luftangriffen und Artilleriefeuer hat die Türkei ihre Militäroffensive gegen kurdische Milizen in Nordsyrien begonnen. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan bestätigte den Start am Mittwochnachmittag per Twitter.

Ziel der Operation ist die kurdische YPG-Miliz, die auf syrischer Seite der Grenze ein großes Gebiet kontrolliert. Die Türkei sieht in ihr einen Ableger der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK und damit als Terroristen. Erdogan schrieb: "Unser Ziel ist, den Terrorkorridor, den man an unserer südlichen Grenze aufbauen will, zu zerstören und Frieden und Ruhe in die Region zu bringen."

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Am Abend gab es Berichte über erste Tote. Zwei Zivilisten seien bei einem türkischen Bombardement auf das Dorf Maschrafa umgekommen, twitterte der Sprecher der von der Kurdenmiliz YPG angeführten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), Mustafa Bali. Einige andere Menschen seien verwundet worden.

Die Angriffe schienen sich zunächst vor allem gegen zwei, etwa 120 Kilometer von einander entfernt liegende Orte und deren Umland zu richten: Tall Abjad und Ras al-Ain. Ras al-Ain liegt gegenüber dem türkischen Ort Ceylanpinar in der südosttürkischen Provinz Sanliurfa. In Sanliurfa befindet sich die Kommandozentrale für die Offensive. Tall Abjad liegt nahe der türkischen Grenzstadt Akcakale.

Viele Regierungen drangen auf sofortigen Stopp

Die Luftschläge und das Artilleriefeuer vom Boden begannen gegen 16 Uhr Ortszeit. Der Sprecher der SDF, Mustafa Bali, schrieb auf Twitter: "Türkische Kampfflugzeuge haben damit begonnen, Luftangriffe auf zivile Gebiete durchzuführen. Die Menschen in der Region sind in großer Panik." Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte berichtete von einer Fluchtwelle aus Ras al-Ain und dem Umland. Kurdischen Quellen zufolge baten Ärzte in einem Krankenhaus in der Provinz um Blutspenden für Verletzte.

Die Medienaktivisten des Informationszentrums Rojava meldeten, auch die Grenzstadt Tall Abjad werde beschossen. Einwohner sagten der Deutschen Presse-Agentur, die Stadt sei fast leer, weil die meisten Zivilisten sie verlassen hätten. Dafür seien viele Kämpfer dort. Auf manchen Dächern seien Scharfschützen zu sehen. Die staatliche türkische Nachrichtenagentur Anadolu berichtete, Artilleriegeschütze feuerten dort auf "Terrorzellen". Aus dem Verteidigungsministerium in Ankara hieß es, man achte sehr darauf, keine Zivilisten zu treffen.

Viele Regierungen und internationale Institutionen drangen scharf auf einen sofortigen Stopp der Offensive. Bundesaußenminister Heiko Maas sagte in Berlin: "Die Türkei nimmt damit in Kauf, die Region weiter zu destabilisieren und riskiert ein Wiedererstarken des IS." Es drohe eine weitere humanitäre Katastrophe sowie eine neue Fluchtbewegung. "Wir rufen die Türkei dazu auf, ihre Offensive zu beenden und ihre Sicherheitsinteressen auf friedlichem Weg zu verfolgen."

Auch EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker forderte die Türkei zu einem sofortigen Stopp der Offensive auf. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte, die Türkei müsse sicherstellen, dass ihr Vorgehen verhältnismäßig und maßvoll sei. "Es ist wichtig, alle Handlungen zu vermeiden, die die Region weiter destabilisieren (...) und noch mehr menschliches Leid verursachen können."

Die syrischen Kurden hatten am Morgen eine Generalmobilmachung ihrer Truppen verkündet. Alle seien aufgerufen, sich an die Grenze zu begeben, um in diesen "kritischen historischen Momenten" Widerstand zu leisten, hieß es in einer Erklärung am Mittwoch. Kurden weltweit wurden aufgefordert, gegen die Offensive zu demonstrieren.

Angriffe auf türkisches Staatsgebiet

Vereinzelt gab es am Mittwoch nach türkischen Berichten auch Angriffe auf türkisches Staatsgebiet. Zwei Mörsergranaten aus Ras al-Ain seien im Zentrum von Ceylanpinar eingeschlagen, berichtete Anadolu. Sechs Raketen seien in der weiter im Nordosten Syriens gelegenen Stadt Kamischli abgefeuert worden und im Zentrum des türkischen Grenzbezirks Nusaybin gelandet. Verletzte gebe es nicht.

Der Einmarsch folgte auf widerstreitende Signale aus den USA. Diese hatten am Montag im Morgengrauen zunächst ihre Truppen aus der Grenzregion abgezogen und signalisiert, dass sie sich einer Offensive nicht mehr in den Weg stellen wollten. Die von den kurdischen Milizen dominierten SDF waren im Kampf gegen die Terrormiliz IS lange ein enger Verbündeter der USA. Ihre Truppen gingen in Syrien am Boden gegen die Extremisten vor und konnten wichtige Gebiete einnehmen. Sie überwachen außerdem zahlreiche Lager mit gefangenen IS-Kämpfern.

Nach scharfen Protesten auch aus den eigenen Reihen in den USA vollzog US-Präsident Donald Trump teilweise eine Kehrtwende und drohte der Türkei mit schweren Konequenzen für ihre Wirtschaft. Am Dienstag betonte er, die USA hätten die Kurden nicht im Stich gelassen und unterstützten sie weiter finanziell und mit Waffen.

"Der IS feiert Trumps Verrat."

Senatoren im US-Kongress bereiteten unterdessen eine parteiübergreifende Resolution für Sanktionen gegen die Türkei vor. Der republikanische Senator Lindsey Graham schrieb auf Twitter, er werde die Bemühungen im Kongress anführen, den türkischen Präsidenten Erdogan "einen hohen Preis" zahlen zu lassen. Der demokratische Senator Chris Van Hollen schrieb: "Der IS feiert Trumps Verrat."

Die Türkei will die Kurdenmilizen aus der Grenzregion vertreiben und dort in einer sogenannten "Sicherheitszone" Millionen syrische Flüchtlinge ansiedeln, die derzeit in der Türkei und Europa leben. Die Türkei hat seit Beginn des Bürgerkrieges im Nachbarland Syrien rund 3,6 Millionen Flüchtlinge aufgenommen. Mittlerweile kippt aber die anfangs von vielen gelebte Willkommenskultur, unter anderem wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage im Land.

Die Türkei warb in den vergangenen Wochen aggressiv für die Zone - und um Gelder für den Aufbau der Infrastruktur. EU-Chef Juncker erteilte dem Anliegen am Mittwoch eine Absage: "Erwarten Sie nicht, dass die Europäische Union dafür irgendetwas zahlen wird." Er droht damit indirekt auch mit einem Stopp der EU-Zahlungen, die die Türkei derzeit für aufgenommene syrische Flüchtlinge erhält.

Die Türkei war zuvor schon zweimal auf syrisches Gebiet vorgerückt, beide Male aber westlich des Flusses Euphrat. Im Jahr 2016 hatte sie mit der Offensive "Schutzschild Euphrat" in der Umgebung des syrischen Orts Dscharabulus den IS von der Grenze vertrieben, aber auch die YPG bekämpft. Anfang 2018 hatten von der türkischen Armee unterstützte Rebellen in einer Offensive gegen die YPG die kurdisch geprägte Grenzregion Afrin eingenommen.

Bis heute kontrolliert die türkische Armee dort gemeinsam mit verbündeten syrischen Rebellen ein Gebiet. Der Bundestag kam 2018 in einem wissenschaftlichen Gutachten zu dem Ergebnis, die türkische Präsenz erfülle alle Kriterien einer militärischen Besatzung.