Zeit der Vereinfacher: Was Neoliberalismus auslösen kann

9.5.2016, 21:30 Uhr

Deutsche Innenpolitik, einst weltweit eher zweitrangig, hat unmittelbare Folgen auf das Verhalten von Migranten. Als in Berlin über Beschränkungen für den Familiennachzug diskutiert wurde, machten sich viele Frauen und Kinder auf den Weg, die ihren Männern oder Vätern folgen wollten.

Vor diesem Hintergrund wird schnell klar, was Ungarns Staatschef Viktor Orbán, der wohl nicht mehr zu verhindernde US-Präsidentschaftskandidat Donald Trump oder auch die deutsche AfD miteinander gemeinsam haben: Es ist die Stunde der Vereinfacher, die vorgaukeln wollen, dass es in solch einer Situation schnelle Lösungen gibt: Orbán hat schon einen Zaun an der Grenze zu Serbien bauen lassen, Trump plant eine Mauer Richtung Mexiko und AfD-Politiker empfehlen Grenzpolizisten schon mal Schüsse auf wehrlose Flüchtlinge, jedenfalls bis ein sehr berechtigter Sturm der Entrüstung über sie hinwegfegt.

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Lange Liste

Die Liste ließe sich übrigens noch verlängern, zum Beispiel mit Polens stockkonservativem Politiker Jaroslaw Kazcynski, der die neue ultrarechte Regierung im Hintergrund steuert. Oder um den österreichischen FPÖ-Politiker Norbert Hofer, der jetzt Favorit in der Stichwahl um das Bundespräsidentenamt ist.

Das Verblüffende ist: Hinter solchen politischen Entwicklungen steckt im Kern immer das gleiche Prinzip – auch wenn es natürlich nationale Besonderheiten gibt. All diese Staaten haben gewaltige gesellschaftliche Umbrüche hinter sich, mal offensichtlich wie im Osten, mal schleichend wie im Westen. In Polen oder Ungarn ist das immer noch das Ende von Ostblock und Sozialismus, der zu einer neuen Gesellschaftsordnung führte. Im Westen sind es, etwas weniger offensichtlich, die immer noch spürbaren Folgen des Neoliberalismus, der die Reichen reicher und die Armen ärmer werden ließ.

Beide Entwicklungen schufen Modernisierungsverlierer, die Angst vor weiterem sozialen Abstieg haben. Oft leben sie bereits in prekären Verhältnissen, und häufig gehören sie zu den tendenziell bildungsfernen Schichten. Das alles macht sie anfällig für die Thesen der großen Vereinfacher.

Schneller arm

In der Bundesrepublik sah diese Entwicklung übrigens so aus: Hartz IV kann viel schneller in die Armut führen als noch in den 90er Jahren. Über Jahre sind die Realgehälter stagniert oder sogar zurückgegangen, dafür explodierten die Managergehältern. Das Rentenniveau sinkt, die als Ausgleich angebotene Riester-Rente dient vor allem der Finanzindustrie und hilft jenen nicht, die von Altersarmut am stärksten bedroht sind – denn sie haben schon heute nichts mehr, was sie fürs Alter zurücklegen können. Trotzdem ist das deutsche Sozialsystem im Vergleich zu anderen Ländern vergleichsweise stabil; deshalb bleibt das Wählerpotenzial der AfD begrenzt.

Die großen Vereinfacher, die Versprechen machen, die sie nicht einhalten werden, sind nur schwer zu verhindern. Denn es braucht dafür eine gesellschaftliche Übereinkunft, dass die Ausgaben für soziale Sicherheit eine Investition in politische Stabilität sind. Und dass davon auch jene profitieren, die sie finanzieren müssen – Mittelstand und Wohlhabende nämlich. Denn all dies trägt dazu bei, dass Krisensituationen nicht durch alarmierende Wahlergebnisse verschärft werden. Es ist sowieso schon schwer genug, die Herausforderungen zu lösen, die sich in Syrien und durch Migranten stellen.