Blut, Schweiß und Freudentränen - Ein Nürnberger Selbstversuch im Rugby

4.8.2016, 10:00 Uhr

Sebastian Böhms erster Versuch den Ball in die richtige Richtung zu werfen. Nach vorne war allerdings falsch. © Horst Linke

Ich blute. Aber das war wohl zu erwarten. Meine Kollegen hatten damit gerechnet und mich im Dienstplan für die kommende Woche vorsorglich gar nicht erst berücksichtigt. Und noch in der Kabine werde ich freundlich darauf hingewiesen, dass ich mich hätte besser vorbereiten können. Einen Mundschutz passt man mir noch in der Vereinskneipe an — sie wissen hier, wie sie es machen müssen.

Weitere Vorsichtsmaßnahmen meine ich, nicht treffen zu müssen. Ich werde schnell sein, zu schnell für ihre Angriffe. Denke ich und täusche mich. Es wird ein Massaker. Wie Vampire fallen sie über mich her. Nach fünf Minuten Rugby blute ich an beiden Knöcheln, am rechten Knie, am linken Ellbogen. Ich bin langsam, zu langsam und zu weich. Nach fünf Minuten will ich aufhören, will flüchten vom "Mosquito Pitch". Stechmückenkampfplatz, hätte ich diesen Namen nur ernst genommen.

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Zwei Stunden Training ohne weitere Schäden

Dan Carter hat sich sowohl die Achillessehne als auch den Adduktorenmuskel gerissen. Er hat sich das Wadenbein gebrochen, hat sich an den Waden, den Oberschenkelbeugern und an den Rippen verletzt. Er hat sich beide Schultern ausgekugelt, wurde unzählige Male operiert und hat immer mindestens einen kleinen Finger gebrochen. Fußballfunktionäre sind korrupt, Deutscher Meister wird immer der FC Bayern München, der Club ist ein Depp und Rugby ist gefährlich, klar. Aber Dan Carter ist einer der besten Spieler, die dieser Sport je hervorgebracht hat.

Und ich stehe zum ersten Mal auf dem Mosquito Pitch des TSV 1846 Nürnberg, als ewiger Rookie, als Gast, als Reporter, als sich selbst überschätzender Ex-Sportler, der im Wortsinn schon immer davon geträumt hat, dieses edle und zugleich so rohe Rugby von innen zu erleben. Wer nun allerdings auf die Schilderung eines offenen Schien- und Wadenbeinbruchs hofft, der kann gleich weiterklicken. Die Mückenstiche werden mich auch eine Woche später noch plagen, ansonsten aber habe ich zwei Stunden Training mit den 46ern ohne größere Folgeschäden überstanden — vom schmerzenden Selbstmitleid, zu alt für diesen schönen Scheiß zu sein, mal abgesehen.

Beim Rugby ist für alle Platz

Mit einem Franzosen machte Sebastian Böhm die Übungen bevor es zum eigentlichen Spiel ging. © Horst Linke

Auf Rugby kann sich jeder einigen, wenn sich Jungs auf einer Party beim Bierholen in der Küche unterhalten. Fußball ist zu larmoyant, American Football zu langweilig, Handball zu altbacken, Basketball zu selbstverliebt, Rugby aber ist lässig. Den Sportfan, der nach seinem ersten Rugbyspiel behauptet, schon Beeindruckenderes gesehen zu haben, den gibt es nicht. Trotzdem freuen sich die 46er bereits auf eine wunderbar ehrliche Art, wenn 130 Menschen den Weg zum einzigartig schönen Waldsportplatz hinauf gefunden haben. Rugby hat natürlich auch in Deutschland das Potenzial, so populär wie in Frankreich zu werden, noch aber scheint die Zeit noch nicht reif zu sein.

Für mich ist Zeit überreif. Aber das weiß ich noch nicht, als ich mich zum Aufwärmen einreihe. Ich bin 1,93 Meter groß, 99,9 Kilogramm schwer, als einstiger Leichtathlet schnell, stark und ausdauernd – und als Hobby-Eishockeyspieler aggressiv. Vier dieser Attribute werde ich zwei Stunden später streichen müssen. Beim Aufwärmen ohne Ball falle ich zumindest aus der Ferne nicht negativ auf.

Wir sollen uns einen Partner suchen, der Franzose Robert und ich sind zu langsam und bilden deshalb eine einseitige Zweckgemeinschaft. Dass ich ein Transpirationsproblem habe, merkt Robert, als er um mich herum klettern soll. Dass Robert leicht ist, weiß ich zu schätzen, als ich ihn wie eine Hantelstange auf Schulterhöhe heben soll. Wir mögen aussehen wie ein französisch-deutsches Komikerduo, tatsächlich aber sind wir der Beweis jener These, wonach beim Rugby für alle ein Platz ist, für die Dicken, die Dünnen, die Leichten, die Schweren und sogar für Deutsche.

Rugby ist wieder Olympisch

Zwei Wochen sind vergangen seit dem größten Spiel in der jungen Rugby-Geschichte dieses Landes. Deutschland hatte nach der ersten Halbzeit geführt — gegen Samoa, ein kleiner Inselstaat im Pazifik, im Rugby aber Weltklasse. Von dieser Sensation hat man am Montag danach nur wenig in den Zeitungen gelesen. Was allerdings vielleicht auch daran lag, dass es zur Sensation dann doch nicht kam. Hätte Deutschland gewonnen, wäre nur noch ein Sieg vonnöten gewesen, um sich für Rio de Janeiro zu qualifizieren.

92 Jahre hat Rugby pausieren müssen, in Brasilien zählt die von Gentlemen gespielte Raufbold-Sportart erstmals wieder zum olympischen Programm. Und beinahe wäre Deutschland dabei gewesen, doch dann konnte ein Spieler den Ball im Halbfinale des Qualifikationsturniers in Monaco weder aufs erste noch aufs zweite und leider auch nicht aufs dritte Mal kontrollieren. Ein Samoaner rauscht heran, greift sich den Ball und legt ihn in der deutschen Endzone ab. Mittlerweile weiß ich, wie sich der arme Kerl gefühlt haben muss.

Der Ball ist ein Ei und als solches recht störrisch. Martin Deinzer, der Pressesprecher, versucht, mir in eineinhalb Minuten das Passen beizubringen. Sehr gut, sagt er, als er sich nach dem Ball bückt. Sie wissen hier schon, wie man es macht. Als es im Training das erste Mal ernst wird, vergesse ich die einzige Regel, die man kennen sollte. Bei einer ziemlich chaotischen, mich überfordernden Passübung biete ich mich auf gleicher Höhe an, worauf mir Coach Arne mit beeindruckendem Gleichmut erklärt, dass Vorwärtspässe in dieser Sportart verboten sind.

Nachdem die drei Dutzend Mann starke Gruppe geteilt wird und ich nur ob meiner vermeintlich exponierten Position bei der Mannschaft mitspielen darf, die zwei Tage später Bayerischer Vizemeister im 7er Rugby wird, werden die Übungen komplizierter, trotzdem läuft es. Niemand muss wegen mir Strafliegestütze machen. Ich realisiere, dass man beim Rugby mindestens so viel rückwärts wie vorwärts lauft. Und bei den Erklärungen von Coach Basti nicke ich wissend, obwohl ich noch nicht einmal Bahnhof verstehe. Coach Basti nickt auch, obwohl er erkennt, dass ich ahnungslos bleibe. Sie wissen hier schon, wie man es macht.

Unangenehm wird es erst, als es eigentlich großartig werden soll. Wir sollen tackeln, tief und schnell in unseren Gegner hineinrennen, wobei die Gegner durch Schaumstoff geschützt sind oder nur aus Schaumstoff bestehen. Mein erster Tackle gilt einer Tackle Bag, einem 1,30 Meter großen Schaumstoffsack, der mit mir freundlicherweise zu Boden geht, obwohl ich kurz vor dem Zusammenprall zögere. Es fühlt sich erbärmlich an, trotzdem muss ich später bei der Ansicht von Videomaterial feststellen, dass es noch viel erbärmlicher aussieht.

Im Rugby gibt es keine Pausen

Es fehlt mir an Kraft und Aggressivität, während der abschließenden Probe des Ernstfalls muss ich feststellen, dass es mir auch an Schnelligkeit und Kondition mangelt. Sieben Minuten sollen wir spielen, eine Halbzeit. Nach vier Minuten könnte ich mich nicht mehr entscheiden zwischen einem gesundheitsschädlichen, aber wirksamen, Mückengift und einer Pause. Eine Minute später will ich mich flach hinlegen und einschlafen.

Fußball als laufintensiv zu bezeichnen, wäre eine Beleidigung für diese Sportart. Sechs Mann rennen möglichst kompakt über den gesamten Platz, egal, ob sie den Ball haben oder nicht. Pausen gibt es nur, wenn man sich in ein Gedränge verkeilt. Und ich verkeile mich in jedes Gedränge, so schnell lerne ich. Nach kleineren, aber unverzeihlichen Regelverstößen (Vorwärtspässe) drängen wir uns, drei Mann auf der einen, drei Mann auf der anderen Seite. Kopf runter, brüllt mein Gegenüber, ich verstehe noch das Wort "Sanka" und schon rennen wir wieder dem Ball hinterher.

Einmal sehe ich eine Chance auf einen langen Lauf, vielleicht auf meinen ersten Versuch. Ich versuche es mit einer Finte, trete voll an und werde im letzten Moment gestellt. So fühlt es sich an. Auf dem Video sieht man mich kurz nicken, eher stolpern als sprinten und einen Gegenspieler, der mich aufhält, als würde er seinen dreijährigen Sohn am Betreten eines Spielzeugladens hindern.

Rührung: Eine Sekunde zu lange

Trotzdem: Irgendwann, natürlich renne ich gerade dem Ball hinterher, breitet sich doch noch ein großes Glücksgefühl in meinem Körper aus. Rugby vereint Brutalität und Anmut, Intellekt und Sportsgeist. Und ich bin mittendrin. Das rührt mich — eine Sekunde zu lang. Mein Gegner nutzt die Lücke, sprintet, legt einen Versuch.

In der Kabine, ich blute, mein kleines Rugbyherz blutet, beugt sich Coach Basti zu mir rüber und fragt: "Und nächste Woche bist du wieder dabei?" Ich antworte: "Nein, ich bin 39 Jahre alt, hab’ zwei Kinder und eine unheilbare Stoffwechselkrankheit." (Zwei Bandscheibenvorfälle, die chronische Achillessehnenentzündung und das einzigartige Transpirationsproblem verschweige ich.) Er sagt: "39? 25 hätte ich gedacht, vielleicht Ende 20." Sie wissen hier wirklich, wie man es macht. Habe ich schon erwähnt, wie großartig das olympische Rugby beim TSV 1846 ist?