Ein neues Leben unter Palmen

15.11.2019, 17:00 Uhr

Am Ende ging alles so schnell, dass Peter Varjasi nicht einmal Tschüss sagen konnte. Tschüss zu all denen, die der Schwimmer die vergangenen Jahre wohl häufiger sah als seine Familie: die Mannschaftskollegen der SG Mittelfranken. Täglich stieg der 18-Jährige mit der eingeschworenen Gruppe Hochtalentierter schon frühmorgens vor der Schule im Stockbauer-Bad ins Wasser, bis zu zwölf Einheiten absolvieren die Erlanger Schwimmer in einer Woche. Das bringt sie nicht selten in die Deutsche Spitze ihrer Altersklasse und in Ausnahmefällen sogar noch weiter: zu Europameisterschaften, zu Olympischen Spielen, oder auch – wie schon Peter Varjasi – zu Weltmeisterschaften.

Nicht einmal dem, der wohl neben Peter Varjasi selbst den größten Anteil daran besitzt, dass Varjasi nun ein Leben leben kann, von dem er schon immer geträumt hat, konnte er auf Wiedersehen sagen: Trainer Roland Böller.

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"Ich habe mit dem Rolli und mit den anderen noch gar nicht reden können", sagt Varjasi am Telefon. "Aber vielleicht ist das auch ganz gut so, weil ich glaube, das wäre emotional nicht einfach geworden, sich zu verabschieden." Der derzeit erfolgreichste Schwimmer der Mannschaft, der es bis zu den Junioren- und sogar den Weltmeisterschaften der Erwachsenen geschafft hat, lebt fortan in den USA. Varjasi hat ein Schwimm-Stipendium der Florida State University angenommen, einen der begehrten kostenfreien Studienplätze für herausragende Spitzensportler. Selbst in den USA ist das ein Privileg, das nur ein Bruchteil der ambitionierten Leistungssportler erreichen können. Eine Fahrkarte für viele zu einem akademischen Abschluss, den sie ohne ihre sportliche Erfolge nicht finanzieren hätten können – ein Uni-Semester kostet in den USA teilweise eine fünfstellige Summe.

Der Trainer ist nicht sauer

Roland Böller ist daher keineswegs sauer über Varjasis Entschluss, sondern, wie er sagt, "sehr, sehr stolz". Peter ist ja nicht weg, sagt der Trainer der SG Mittelfranken, er wird für den Jahreshöhepunkt, die Deutschen Meisterschaften, in Berlin für Erlangen antreten und auch sonst wann immer er seine Freundin und seine Familie besucht, in der Stockbauer-Halle weiter mit der Mannschaft trainieren. "Auch wenn alles hier noch sehr neu und aufregend ist", sagt Varjasi, "freue ich mich schon sehr auf Weihnachten, wenn ich das erste Mal seit September wieder zu Hause bin."

Industrial Engineering studiert der gebürtige Ungar, der als kleiner Bub nach Erlangen kam, in Florida. Es lassen sich Sport und Ausbildung auf dem großen Campus ideal verbinden, die Kosten übernimmt – bis auf die Verpflegung – die Universität: Wohnen, Studiengebühr, Ausrüstung, Schwimmkleidung, Schulbücher. Sogar alles, was Peter Varjasi an einer Snackbar an proteinhaltigen Nahrungsmitteln kauft, muss er nicht bezahlen. Doch das war nicht der einzige Grund, den Schritt nach Florida zu wagen: "Ich wollte das ganze Jahr über im Freibad unter der Sonne trainieren", sagt Peter Varjasi. "In Erlangen hat mich ehrlich gesagt das Wetter genervt." Ein Standortvorteil, gegen den die Stadt nicht ankommt.

Mit der neuen Sprache kommt er auch in der Uni schon recht gut zurecht. Der Mathematikstoff ist ähnlich wie zuletzt im Abschlussjahr der Wirtschaftsschule, die ersten zwei Semester, hat Peter Varjasi sich sagen lassen, wird sich das kaum ändern. Der Fokus liegt wieder auf Schwimmen nach einem Jahr, in dem er sich vermehrt in Erlangen um den Schulabschluss gekümmert hatte.

Der Traum: Olympische Spiele

Jeden Tag geht es nun um fünf Uhr morgens ins Wasser für 90 Minuten Training mit dem 60-köpfigen Uniteam. Im Anschluss besucht man Vorlesungen oder geht in den Kraftraum. Danach wird noch einmal 120 Minuten im Wasser trainiert, vier Mal die Woche. Das soll helfen, um bei den nationalen NCAA-Meisterschaften, den Uni-Wettkämpfen, im April möglichst weit zu kommen. Doch auch mit der SG Mittelfranken möchte Varjasi weiter hoch hinaus. Das traut ihm Roland Böller zu: "Peter hatte bei uns eine überragende Leistungsentwicklung in den vergangenen Jahren. Das hat ihm dieses Stipendium überhaupt ermöglicht, daher sind wir alle sehr stolz auf ihn. Er hat dort perfekte Möglichkeiten, um den nächsten Schritt zu machen." Der könnte, wenn alles perfekt läuft, bis zu den Olympischen Spielen reichen, glaubt Böller.

Bis es soweit ist, genießt Peter Varjasi nun das Leben unter der Sonne Floridas. In der Freizeit spielt er Volleyball mit den Teamkameraden oder fährt die Football-Mannschaft der Uni anfeuern. Zeit für Heimweh ist da wenig, wobei: "Nikita (Rodenko, d. Red.) fehlt mir hier schon. Wir haben in Erlangen viel abgehangen. Und natürlich sehr meine Freundin und meine Familie." Mit allen steht er dank des Internets in häufigem Kontakt. Und man wird sich ja wiedersehen, spätestens an Weihnachten. Dann kann Peter Varjasi auch endlich mit allen Mannschaftskameraden und dem Trainer sprechen. Er muss dann viel erzählen, von seinem Traum, den er nun leben kann.