Kommentar zum Phantomtor

Durchs Außennetz ins Tor der Ice Tigers: Und nun?

11.10.2021, 15:41 Uhr

Auf den ersten Blick nicht zu erkennen: Ein Tor in Augsburg (hier erzielt Chad Nehring gerade das 2:0) litt unter Netzschwäche.  © Eibner Pressefoto / Heike Feiner via www.imago-images.de

Die Zeit hat die Erinnerung an den 23. April 1994 überzuckert. Dem Kuriositätenkabinett der Fußballbundesliga ist DAS Phantomtor ein Schmuckstück, das im Fünf-Jahres-Rhythmus beschmunzelt wird. Von den Hauptdarstellern wird niemand vergessen, welch Leid diese eine Fehlentscheidung verursacht hat. Phantomtorschütze Thomas Helmer wird noch heute beschimpft und verhöhnt, obwohl sein größter Fehler lediglich war, den Ball am Tor vorbeizustolpern. Schiedsrichter Hans-Joachim Osmers erhielt jahrelang Morddrohungen. Wer in Bremen das Pech hatte, auf die Namen Hans-Jürgen, Achim oder Hannes Osmers getauft zu werden, der wurde angerufen, immer wieder belästigt. Vergleichsweise erträglich war da der Abstieg für die im Leiden routinierten Fans des 1. FC Nürnberg, der sich im Frühjahr 1994 nicht nur, aber eben auch wegen des Phantomtors im Olympiastadion in die zweite Liga verabschieden hat müssen.

Die Folgen aus der vielleicht sogar berühmtesten Fehlentscheidung der Bundesliga-Geschichte waren eben nicht kurios, sondern ernst. Menschen verloren ihren Job, andere ihre Leichtigkeit. Und natürlich ist es nicht statthaft, Helmers Phantomtor mit dem vermeintlichen Treffer Adam Payerls zum 3:0 für seine Augsburger Panther im Spiel gegen die Nürnberg Ice Tigers zu vergleichen – wenngleich nicht aus den naheliegenden Gründen. Denn wenngleich natürlich niemand behaupten kann, dass die zumindest optisch und in allen anderen Statistiken außer der Torstatistik überlegenen Ice Tigers das Spiel noch gewonnen hätten; ist es sehr wahrscheinlich, dass Nürnberg nach 56 Spieltagen jeden einzelnen Punkt brauchen wird – ob nun im Kampf gegen den Abstieg in die DEL2 oder im Kampf um einen Platz in den Playoffs.

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DEL und Schiedsrichtern bedauern - immerhin

Dass der erfahrene André Schrader und Andrew Bruggeman, ein Schiedsrichter aus dem Austauschprogramm der DEL mit Nordamerika, am Sonntagabend den Schuss Payerls durch das Außennetz des Tors als regulären Treffer anerkannt haben, kann also noch ernsthafte Folgen haben. Aber natürlich müssen Schiedsrichtern Fehler zugestanden werden – gerade von den Ice Tigers, die sich durch zwei beeindruckend misslungene Aufbauversuche innerhalb von 23 Sekunden selbst in Bredouille gebracht haben; gerade vom Autor dieser Zeilen, der dafür bekannt ist, unter Druck immer wieder Wörter zu vergessen. Trotzdem muss aufgearbeitet werden, warum die Schiedsrichter nicht auf die Hinweise der Ice Tigers vor dem Spiel und unmittelbar nach dem Tor eingegangen sind, dass das Tornetz schadhaft sei. Trotzdem muss geklärt werden, warum sie sich nach einem Lattentreffer von Tyler Sheehy die Videoaufzeichnung anschauten, um sich abzusichern, nicht aber nach Payerls Netztreffer. Trotzdem muss die Frage erlaubt sein, warum im Game Center der DEL niemand auf diese Szene aufmerksam wurde. Anders als Osmers vor 27 Jahren haben die Liga und ihre Unparteiischen nahezu jede Möglichkeit, derlei fatale Fehlentscheidungen noch während des Spiels zu verhindern.

Da war es geschehen: Außerhalb des Bildausschnitts müsste Ryan Stoa versuchen, mit einem Schiedsrichter Kontakt aufzunehmen.  © Eibner Pressefoto / Heike Feiner via www.imago-images.de

Die Deutsche Eishockey Liga hat sich immerhin den Montagvormittag Zeit genommen, sich mit dem Phantomtor von Augsburg zu beschäftigen. Das Ergebnis der Untersuchung allerdings kann für niemanden befriedigend sein. "Nach genauem Studium der Videoperspektiven […] kommen die Verantwortlichen zu dem Schluss, dass der Puck […] offenbar seitlich durch das Tornetz von außen ins Tor gelangt ist." Die DEL bestätigte also nur, was jeder Fan spätestens nach dem genauen Studiums der Übertorkamera hat selbst sehen können. "Liga und Schiedsrichter bedauern…" Auf die Spielwertung habe die Nachprüfung keinen Einfluss. Und tschüss.

Schwabl schießt und trifft ganz klar: nicht

Kein Wort zu der Darstellung der Ice Tigers, nach der die Schiedsrichter vom Zustand des Tornetzes hätten wissen müssen. Kein Wort zu den Konsequenzen aus dieser Fehlerkette. Kein Wort, das das Handeln der Schiedsrichter hätte erklären können. Kein Wort darüber, warum das Spiel nicht wiederholt werden könne, so wie damals im Frühjahr 1994.

Osmers will Helmer damals gefragt haben, Helmer will geantwortet haben, dass er nicht wisse, wohin er den Ball getreten habe. Bis heute steht Aussage gegen Aussage. Zur Einführung der Torkamera brauchte es am 18. Oktober 2013 ein zweites Phantomtor durch den ehemaligen Nürnberger Stefan Kießling, dem es wie Payerl gelang, den (allerdings ungleich größeren) Fußball von außen durch die Maschen zu schießen. Endergebnis damals 1994: 1:2, drei Minuten vor dem Ende verschoss Manni Schwabl einen Elfmeter, weshalb der 1. FC Nürnberg gegen die Wertung des Spiels Protest einlegte. Endergebnis des Wiederholungsspiels: 0:4 und zwei Spieltage später der Abstieg des Clubs. Die Ice Tigers verzichten auf einen Protest, wohl auch, weil man ihnen signalisiert hat, dass die Aussicht auf einen Erfolg gleich null wäre. Immerhin haben sie noch 46 Spieltage Zeit, ihre eigenen und die Fehler anderer wieder gutzumachen.