Ein Jahr Flugverbot: Was wird aus Boeings Krisenjet 737 Max?

9.3.2020, 10:36 Uhr

Ein Pilot winkt aus der Pilotenkabine eines Flugzeuges vom Typ Boeing 737 Max. Knapp ein Jahr nach dem zweiten Absturz einer Boeing 737 Max binnen weniger Monate hat ein Untersuchungsausschuss des US-Kongresses schwere Vorwürfe erhoben. © Ted S. Warren, dpa

Boeing galt lange als erfolgsverwöhnter US-Vorzeigekonzern, doch zwei Flugzeugabstürze kurz nacheinander haben den Luftfahrt-Riesen in eine tiefe Krise gestürzt. Vor rund einem Jahr wurden für die Unglücksflieger vom Typ 737 Max weltweit Startverbote verhängt, die das Unternehmen enorm belasten. Ob und wann die Maschinen wieder abheben dürfen, bleibt ungewiss. Fest steht: Das Vertrauen in Boeing ist erschüttert, der Ruf ramponiert. Das 737-Max-Debakel hat den Konzern bereits etliche Milliarden Dollar und einen Vorstandschef den Job gekostet. Wie geht es weiter?

Drei lange Tage dauerte es, bis die USA sich dem internationalen Druck beugten. Am Mittwoch, dem 13. März 2019, kündigte Präsident Donald Trump das Flugverbot für Boeings 737 Max an. Am Sonntag zuvor war in Äthiopien eine Maschine des Typs abgestürzt, knapp fünf Monate vorher bereits ein baugleiches Modell in Indonesien. Insgesamt kamen bei den Unglücken 346 Menschen ums Leben. Nach dem zweiten Absturz sperrten China, die EU und andere Staaten rasch ihre Lufträume für die 737 Max. Die USA sträubten sich zunächst, gaben letztlich aber nach. Trump sprach von einer "sehr schwierigen Entscheidung".

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Boeing geriet schnell weiter in die Bredouille. Untersuchungsberichte zeigten, dass die Abstürze nach einem ähnlichen Muster erfolgten, bei dem eine fehlerhafte Steuerungsautomatik die Flugzeuge Richtung Boden lenkte. Besonders brisant: Boeing wollte dieses Problem eigentlich bereits nach dem ersten Unglück per Software-Update beheben, doch die Lösung zieht sich bis heute hin. In der Zwischenzeit kamen immer neue Details heraus, die den Konzern weiter in Erklärungsnot brachten. Der Airbus-Rivale ist mit Vorwürfen konfrontiert, die 737 Max aus Profitgier überstürzt auf den Markt gebracht und die Sicherheit vernachlässigt zu haben. Das birgt auch juristisch hohe Risiken.

Der für die Aufarbeitung der Flugzeugabstürze zuständige Kongressausschuss des US-Repräsentantenhauses erhob am vergangenen Freitag schwere Anschuldigungen gegen Boeing. Die 737 Max sei bereits in ihrer Entwicklung durch technische Fehler und einen Mangel an Transparenz gegenüber Aufsehern und Kunden "ruiniert" gewesen, hieß es in einem vorläufigen Untersuchungsbericht des Ausschusses. Zudem wird Boeing darin vorgeworfen, Informationen zum Betrieb und zur Technik des Flugzeugs verschleiert und zurückgehalten zu haben. Die Rede ist von einer "Kultur des Verheimlichens" bei dem Konzern.

Diverse Ermittlungen

Ob bei der 737-Max-Zertifizierung alles mit rechten Dingen zuging, ist Gegenstand verschiedener Ermittlungen. Es gibt schon länger den Verdacht, dass Boeing die US-Flugaufsicht FAA getäuscht und wichtige Informationen unterschlagen haben könnte. Heikle Interna und forsche Ansagen zur 737-Max-Wiederzulassung belasteten das Verhältnis zur Behörde zeitweise so stark, dass die Spannungen als ein Grund für den Rauswurf von Konzernchef Dennis Muilenburg im Dezember galten. Boeing musste sich für brisante Mitarbeiter-Chats rechtfertigen, in denen es unter anderem zur 737 Max hieß: "Dieses Flugzeug ist von Clowns entworfen, die wiederum von Affen beaufsichtigt werden."

Dass Nachrichten wie diese dem US-Kongress und der FAA gegenüber offengelegt wurden, war Teil einer Transparenzinitiative von Muilenburgs Nachfolger Dave Calhoun, der endlich alle Missstände auf den Tisch legen will, um das Vertrauen in Boeing wiederherzustellen. Dabei hat der Manager alle Hände voll zu tun. Das 737-Max-Debakel hat dem Konzern 2019 den ersten Jahresverlust seit 1997 eingebrockt. Alleine im vierten Quartal verlor Boeing unterm Strich gut eine Milliarde Dollar. Insgesamt belaufen sich die Sonderkosten wegen der Flugverbote bis zuletzt auf 18 Milliarden Dollar - und die Schadensbilanz dürfte noch deutlich steigen.

Boeing geht davon aus, dass die 737 Max "Mitte 2020" wieder zugelassen wird, doch die Entscheidung liegt allein bei den Behörden. Geschäftlich betrachtet ist das größte Problem des Herstellers, dass er seinen bis zu den Abstürzen bestverkauften Flugzeugtyp und wichtigsten Gewinnbringer aufgrund der Startverbote seit einem Jahr nicht mehr an Kunden ausliefern konnte. Das belastet enorm, zumal Boeing die 737 Max lange weiter auf Halde produzierte, obwohl den hohen Kosten keine unmittelbaren Einnahmen gegenüberstanden. Großkunden stoppten zudem Anzahlungen für bestellte Jets.

Erst im Januar setzte Boeing die Fertigung aus. Das wiederum war eine Hiobsbotschaft für die große Zuliefererkette und die US-Wirtschaft insgesamt, für die Boeing große Bedeutung hat. So setzte der Zulieferer Spirit Aerosystems 2800 Mitarbeiter auf die Straße. Das Unternehmen baut unter anderem die kompletten Rümpfe des Flugzeugs. Diese Arbeiten und die zugehörigen Einnahmen fallen seit Januar weg.

Boeing hatte mit der 737 Max auf den Erfolg des Konkurrenzmodells A320neo von Airbus reagiert. Dieser hatte seinem Erfolgsmodell A320 vor allem mittels modernerer Triebwerke eine spritsparende Neuauflage spendiert. Mitte 2011 hatte Airbus mehr als 1000 Bestellungen für seinen Flieger eingesammelt und Boeing die ersten Stammkunden abspenstig gemacht. Wenig später kündigte der US-Konzern den Bau der 737 Max an. Eine völlige Neuentwicklung, über die Boeing schon länger nachgedacht hatte, hätte zu viel Zeit gekostet. Airbus' Vorsprung konnte Boeing trotz hoher "Max"-Nachfrage dennoch nie aufholen.

Triebwerke passen nicht zu Tragflächen

Dann kam es im Herbst 2018 zu dem ersten Absturz. Als entscheidende Ursache gilt inzwischen die Steuerungssoftware, die eigentlich ein Problem mit der Konstruktion des Fliegers lösen sollte. Denn die neuen riesigen Triebwerke passten nicht unter die niedrig hängenden Tragflächen des Flugzeugs. Weil sie praktisch vor den Flügeln hängen, sorgen sie für zusätzlichen Auftrieb. Die Software sollte verhindern, dass das Flugzeug im Steigflug einen Strömungsabriss erleidet und wie ein Stein vom Himmel fällt. Doch falsche Daten zogen die Nasen der Unglücksjets nach unten - bis sie auf der Erde aufprallten.

Seit dem Flugverbot warten Fluggesellschaften in aller Welt darauf, dass Boeing die Probleme löst und die Behörden den Flieger wieder in die Luft lassen. Unternehmen mussten ihre Wachstumspläne bereits eindampfen, beim Reisekonzern Tui zehren hohe Ausgaben für Ersatzflugzeuge seit Frühjahr 2019 schmerzlich am Gewinn. Auch für diesen Sommer ist kaum Besserung in Sicht. Trotzdem hat bisher kaum eine Airline ihre Bestellungen bei Boeing storniert. Denn es gibt praktisch kaum eine Alternative. Bei Airbus ist die Produktion der A320neo-Familie bis ins Jahr 2025 ausgebucht, Hersteller und Zulieferer kommen den Aufträgen kaum hinterher.

Der US-Konzern überdenkt in der Krise nun auch seine Modellpolitik. So legte der neue Konzernchef Calhoun den seit Jahren diskutierten Plan für einen mittelgroßen Passagierjet, das New Midsize Airplane (NMA) zu den Akten. Er sucht nach einem neuen Ansatz und will noch einmal "mit einem weißen Blatt Papier" beginnen. Nach Schätzungen aus Branchenkreisen hätte die NMA-Entwicklung zwischen 10 und 15 Milliarden Dollar gekostet. Calhouns Vorgänger Muilenburg wollte stets sichergehen, dass der Jet auf genügend Nachfrage bei den Fluggesellschaften trifft. Das 737-Max-Desaster kommt den Konzern nun wohl noch viel teurer zu stehen. Vom Imageschaden ganz zu schweigen.