ICE-Attacke in Frankfurt: Im Netz wird mit Emotionen manipuliert

30.7.2019, 18:11 Uhr

Der Tatverdächtige im Fall der tödlichen Attacke auf ein Kind am Frankfurter Hauptbahnhof verlässt am Dienstag nach seiner Haftvorführung das Amtsgericht. © Christoph Reichwein, dpa

Die schreckliche Tat von Frankfurt wühlt die Menschen in Deutschland auf. Ein achtjähriger Junge wird am Hauptbahnhof vor einen einfahrenden ICE gestoßen und überrollt. Das Kind stirbt. Wenige Tage zuvor wird in Voerde am Niederrhein eine 34 Jahre alte Mutter vor einen Regionalzug gestoßen. Auch sie kommt ums Leben. Das Beunruhigende an beiden Fällen: Es handelt sich anscheinend nicht um eine Beziehungstat. Es hätte wohl jeden treffen können.

Die Bestürzung ist groß - und die Reaktionen? Politiker fordern parteiübergreifend mehr Sicherheit auf den Bahnsteigen, den Einbau technischer Sperren und Geländer, mehr Videoüberwachung, mehr Sicherheitspersonal.

Besonders radikale Forderungen gibt es im Netz. Der Aufschrei ist groß, noch bevor Einzelheiten und Hintergründe zum mutmaßlichen Täter bekannt werden. Zeit für die organisierte Entrüstung: Es tauchen angebliche Forderungen nach mehr Verständnis für den Täter auf. Doch diese Profile sind gefakt, sie dienen einzig dazu, den Hass weiter anzufachen. Die AfD Nürnberg teilt den Screenshot eines gefakten Tweets und erreicht damit zahlreiche Menschen in der Region.
Im Minutentakt landen in unserer Redaktion hunderte, inzwischen tausende Meinungsäußerungen. Ob per E-Mail, per Kommentarfunktion auf nordbayern.de oder auf Facebook. Für den Täter wird nicht selten die Todesstrafe gefordert, Folter, die Kastration, die Ausweisung aller Ausländer, die der Afrikaner sowieso und zuallererst. Andere Follower äußern einfach nur ihr Entsetzen und ihre ehrliche Betroffenheit. Aber wie ehrlich sind diese Posts tatsächlich gemeint? Eine Userin mit ausländischem Namen schreibt, sie habe Angst, schreckliche Angst. Man könnte ihr fast glauben, wüsste man nicht, dass diese Person im Stundentakt Posts von Meuthen, Weidel und Kollegen teilt und täglich ein düsteres Bild von einem von Migrantenbanden durchzogenen Deutschland zeichnet. Wenn im Netz Trauer und Empörung herrschen, steckt eben oft auch Kalkül dahinter.

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Folter und Lynchjustiz gefordert

Wie viele Menschen aber mit ihrem tatsächlichen Profil und vollem Namen Folter und Lynchjustiz einfordern, ist ebenfalls erschreckend. Es ist eine hässliche Fratze der Gesellschaft, der wir so wenig Raum wie möglich geben dürfen. Wie groß der Wunsch nach einer gerechten Strafe für den Täter auch ist: Es dürfen niemals Konsequenzen gefordert werden, die in unserem Rechtsstaat weder denkbar noch erwünscht sind. Dass wir Redakteure also die Kommentare auf den Kanälen unseres Medienhauses moderieren, ist selbstverständlich. Mitunter übersehen wir einen Kommentar, den wir besser gelöscht hätten. Mitunter machen uns auch User auf just eingegangene kritische Kommentare aufmerksam. Das hilft, beim Workflow und in der Sache an sich.

Wir müssen auch immer mehr Beiträge löschen, weil sie jenseits einer angemessenen und respektvollen Diskussionskultur stehen. Die Tonart ist rauer geworden, die Vorverurteilungen werden schneller, die Forderungen drastischer. Löscht die Redaktion solche Kommentare, wird ihr Zensur vorgeworfen, Willkür, Einschränkung der Meinungsfreiheit, nach dem Motto: Ob man denn gar nichts mehr bei uns schreiben dürfe?

Doch, lautet unsere Antwort, man darf uns schreiben. Man darf im Netz seine Meinung sagen. Aber man muss sich an Regeln halten. Und man sollte sich mit Vorverurteilungen zurückhalten.