Fall 18 der Weihnachtsaktion

"Wendepunkt": So finden Menschen nach einer Haft neuen Halt

3.12.2021, 09:50 Uhr

Der "Wendepunkt" ist eine Wohngruppe der Stadtmission für entlassene Straftäter. Zur Therapie gehört handwerkliche Arbeit, zum Beispiel in der Fahrradwerkstatt. © Stefan Hippel

Um halb sieben ist Michael Hofmann aufgestanden, wie meistens. Hat sich in seine Kochhose mit dem Pepitamuster geworfen, unten im Gemeinschaftsraum das Frühstück hergerichtet. Bei Kaufland um die Ecke hat er Brötchen besorgt. Dann brachten ihm die Mitbewohner ihre Wäsche, holten die saubere ab. Die Küche mit Hähnchen und Paprika fürs Mittagessen überlässt er nun den Kollegen, um von sich zu erzählen.

17 Jahre in der Psychiatrie

Normal war für Michael Hofmann, der eigentlich anders heißt, lange etwas ganz anderes. Einfach zu Kaufland zu gehen, mal zum Radfahren an die Pegnitz: unmöglich. 17 Jahre lebte er in der Forensischen Psychiatrie in Erlangen. In einem Zweier- oder Dreierzimmer, "du kannst halt im Kreis gehen oder bis zur Tür".

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"Die Krankheit holt einen ein", sagt der ruhige Grauhaarige und meint: Seine bipolare Störung, die Kindheit im Heim, die Straftaten, alles hing zusammen. Nach Verurteilungen wegen Körperverletzung, Hausfriedensbruch und sexueller Nötigung kam er in den Maßregelvollzug. Der "Fall Mollath", erzählt Hofmann, habe viel verändert. Auch bei ihm sahen die Sachverständigen die Verhältnismäßigkeit schließlich nicht mehr als gegeben an.

Putzen, Sport und Gesprächsgruppen

Der 55-jährige Nürnberger lebt seit seiner Entlassung im Frühjahr 2020 im "Wendepunkt", einem Haus der Stadtmission. Die Einrichtung in Eberhardshof nimmt männliche Straftäter nach der Haft auf. Jeder der 20 Männer wohnt in einem Einzelzimmer und nimmt an einem festen Tagesablauf teil. Die Sozialtherapie besteht aus Arbeit in Werkstätten, Putzen und Kochen, handwerklichen Praktika, Sport, Einzel- und Gruppenbetreuung. "Alleine hätte ich nicht leben wollen", erinnert sich Hofmann. "Ich fürchte mich vor Einsamkeit."

Eine Zweckgemeinschaft, die man sich bitte nicht als Idyll vorstellen möge, sagt Leiterin Brigitte Rupp, sondern eher als Pulverfass. Man ist im Haus per Du, aber: "Bei allen unseren Bewohnern besteht eine schwere soziale Problematik", erklärt ihr Kollege Sascha Duffner. Durch die Lebensläufe zögen sich Brüche von klein auf: "Misshandlung, Missbrauch, Vernachlässigung oder Überbehütung, Schulversagen, keine Ausbildung, kaum Erfolge, vielleicht eine Sucht und dann noch falsche Kreise."

Manche wollen sich nicht ändern

Vertrauen fassen, Regeln einhalten – die für die Wohngruppe nötige Zusammenarbeit stellt viele der Männer vor riesige Hürden. Kommen seelische Behinderungen oder Psychosen hinzu, müssen sich die Mitarbeiter jede Absprache neu erobern. Und doch: "Unser Team genießt Autorität", sagen die beiden Sozialpädagogen. "Weil sie merken, dass wir sie mögen und uns Mühe geben." Es nehme sie jedes Mal mit, wenn sie jemanden bei Rückfällen oder Konflikten in die Obdachlosigkeit oder in eine neuerliche Haft verabschieden müssen. Vielleicht zehn Prozent der Teilnehmer brechen vorzeitig ab, schätzt Duffner. "Manche wollen halt gar nicht."

Zum Programm im "Wendepunkt" gehört auch Ergotherapie - ein Bewohner bei der Seidenmalerei. © Stefan Hippel

Im "Wendepunkt" weisen die Männer – die Altersspanne reicht aktuell von Anfang 20 bis Ende 60 – Einbrecher- oder Drogendealerkarrieren vor, sie waren wegen Raub, Betrug, Gewalt oder Sexualdelikten in süddeutschen Haftanstalten oder Psychiatrien gesessen. Die Stadtmission hat damit ein Alleinstellungsmerkmal; die wenigsten Einrichtungen dieser Art lassen Sexualtäter zu.



Für die Definition von Erfolg braucht es hier einen weiten Blick. Kriminalität kommt nicht aus dem Nichts, sagt Leiterin Brigitte Rupp, "bei den Lebensbedingungen einiger unserer Bewohner wären wir auch nicht anders geworden". Einen "Schritt in die richtige Richtung" bewirke die Sozialtherapie "eigentlich immer. Manche schaffen durch uns den Schritt ins normale Leben. Für andere bedeutet es schon viel, nicht mehr straffällig zu werden. Wieder andere erhalten vielleicht zum ersten Mal Einsicht".

70 Cent pro Arbeitsstunde

Mit Spendengeldern wie von "Freude für alle" kann das Team einzelnen Bewohnern beim Übergang in die Selbstständigkeit helfen, sagt sie. Deren Armut lasse sie oft demütig werden. "Der Arbeitsmarkt ist gerade günstig, aber der Wohnungsmarkt ist ein Riesenproblem für unsere Klienten." Im "Wendepunkt" bekommen sie Taschen- und Kleidergeld und 70 Cent pro Werkstattstunde. Sobald sie wieder eigene Einkünfte haben, müssen sie sich an den Unterbringungskosten beteiligen. Kommt dann eine erste Miete oder Anschaffung hinzu, wird es eng. Michael Hofmann war mit leeren Händen angekommen. Sein letzter Besitzstand blieb im Streit in Plastiktüten bei seiner Schwägerin.

Ein bis zwei Jahre bleiben die Männer planmäßig, manchmal länger, oder sie kommen in Krisen wieder. Hofmann nennt das Haus sein "Sprungbrett". Für ihn geht es jetzt langsam um die Jobsuche. Er hatte einmal eine Kochlehre angefangen. "Ich würde gerne als Küchenhelfer oder im Lager arbeiten." Das Führungszeugnis sei noch ein Problem, sagt Sozialpädagoge Sascha Duffner, der aber schon bei kritischeren Prognosen Werdegänge in die Spur gebracht hat. Es bleibt im Bereich des Möglichen, dieses normale Leben in Freiheit.

Die Spendenkonten von "Freude für alle": Sparkasse Nürnberg: DE63 7605 0101 0001 1011 11; Sparkasse Erlangen: DE28 7635 00 00 0000 0639 99; Sparkasse Fürth: DE96 7625 0000 0000 2777 72; Postbank Nürnberg: DE83 7601 0085 0400 0948 54. Alle Zuwendungen sind steuerlich abzugsfähig. Für Beträge über 200 Euro werden Zuwendungsbestätigungen erstellt und verschickt, wenn die vollständige Adresse bei der Überweisung mit angegeben ist (andernfalls genügt ein Anruf oder eine Mail). Alle Spendernamen werden veröffentlicht – es sei denn, die Überweisung ist mit dem Vermerk "anonym" oder "k. Veröff." gekennzeichnet.