"Einem Friedensengel gleich": Amanda Gorman bei der Amtseinführung

21.1.2021, 13:06 Uhr

Für ihren Vortrag bei der Amteinsführung von US-Präsident Joe Biden bekam die junge Poetin Amanda Gorman großes Lob. © Patrick Semansky, dpa

Vielleicht konnte man erst wirklich ermessen, in welch dunklem Tal sich Amerika in den letzten Jahren befand, als die junge Lyrikerin Amanda Gorman bei der Amtseinführung von Joe Biden ans Mikrofon trat und ihr Poem "The hills we climb" vortrug.


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Eine zierliche schwarze Frau sprach da – und die Welt bekam Gänsehaut: "Wenn es Tag wird, fragen wir uns, / wo wir Licht zu finden vermögen, in diesem niemals endenden Schatten? / Den Verlust,den wir tragen, / ein Meer, das wir durchwaten müssen. / Wir haben dem Bauch der Bestie getrotzt."

Und um die Inszenierung dieses Auftritts perfekt zu machen, schien die Sonne grell auf das Kapitol, das vor kurzem noch Schauplatz unglaublicher Kämpfe eines verwirrten und verführten Mobs war: "Wenn der Tag kommt, treten wir aus dem Schatten heraus, / entflammt und ohne Angst. / Die neue Morgendämmerung erblüht, wenn wir sie befreien. / Denn es gibt immer Licht, / wenn wir nur mutig genug sind, es zu sehen, / wenn wir nur mutig genug sind, es zu sein."

Zerknitteretes Land aus dem Sumpf ziehen

Mit ihrem schlichten Langgedicht, das freilich gerne mehr den emotionalen als den literarischen Höhepunkten den Vorzug gab ("Mit jedem Atemzug aus meiner bronzegegossenen Brust"), stieß Gorman einen Seufzer aus. Mit ihren feingliedrigen Händen spielte sie in der Luft, wies zum Himmel, unterstrich fast tänzerisch die Poesie: sie performte den neuen Geist und nur manchmal hatte man die stille Vermutung, es müsste auch gleich der heilige sein.



Einem Friedensengel gleich, sprach sie dem neuen Präsidenten und mindestens der Hälfte ihrer Landsleute aus dem wunden Herzen. Auch sie wollte eigentlich nichts anderes als "America great again" machen, aber sie meinte natürlich ein zerknittertes, beschmutztes, verunstaltetes Land, das aus dem Sumpf herausgeholt werden soll.

Niemand an diesem Tag hat das Dilemma der gespaltenen Staaten eindringlicher benannt als die 22jährige Lyrikerin, "ein dünnes, schwarzes Mädchen, das von Sklaven abstammt und von einer alleinerziehenden Mutter großgezogen wurde", und sich auch gleich ein wenig als künftige Präsidentin empfahl.

Keine freie Meinungsäußerung

Gorman steht damit, man darf es nicht übersehen, natürlich in einer Tradition: den "Poet Laureate" gibt es seit dem Mittelalter in den Staaten des Commenwealth und später auch in Amerika. Er war der Hofdichter, der lorbeerbekränzt Gedichte für offizielle Anlässe verfasste,den Herrscher lobte, dessen Taten pries.

Freie Meinungsäußerung war das nie, schließlich trat der Auserwählte nicht als Narr auf. Mittlerweile, vor allem in Amerika, gleicht das Prädikat freilich mehr einem ordentlichen Literaturpreis, der Träger wird mit viel Geld ausgestattet und ihm wird freie Wort- und Gedankenwahl zugestanden. Aber er weiß natürlich, wem er das zu verdanken hat.

Trump hatte, soweit bekannt ist, keinen "Poet Laureate"; er machte seine Stanzen selber und verbreitete sie in typischer Stummelsprache über Twitter. Und so muss man wohl froh sein, dass nun eine junge Intellektuelle ganz im Sinne ihres Staatsoberhaupts überhaupt wieder zurückgefunden hat zu einer Sprache, die man hören und hinter der man sogar einen Funkenschlag an Wahrheit spüren kann.

Mag einem der Auftritt bisweilen auch etwas arg stilisiert und pompös in die politische und gesellschaftliche Morgenröte gerückt vorgekommen sein: es war großes, staatstragendes Kino, aber es waren alte, gute Gedanken, die so alles überstrahlend daherkamen, weil auch nur für einen Bruchteil von ihnen so lange Zeit kein Platz geblieben ist.