Chefdirigent der Nürnberger Symphoniker

Kahchun Wong im Interview: "Daran gewöhnt, ohne Jetlag aufzuwachen"

2.2.2021, 11:50 Uhr

Erinnerung an die Zeit vor Corona: Im Sommer 2019 hatte Kahchun Wong einen Auftritt auf ganz großer Bühne und dirigierte das Konzert der Nürnberger Symphoniker beim Klassik Open Air im Luitpoldhain. Das Motto von damals klingt heute mehr denn je wie eine Utopie: „Europa über alle Grenzen“. Foto: Roland Fengler © Roland Fengler

Eigentlich hätte der Chefdirigent der Nürnberger Symphoniker, Kahchun Wong, eine tragende Rolle bei der Jubiläumssaison spielen sollen, mit der das Orchester 2021 sein 75-jähriges Bestehen feiern wollte. Doch die Corona-Pandemie durchkreuzte auch diese Pläne. Tatsächlich stand Wong am 27.September 2020 beim Konzert "Festlicher Auftakt II" zum letzten Mal vor dem Publikum.


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Er ist weiterhin in engem Kontakt mit seinem Orchester, er und Symphoniker- Intendant Lucius A. Hemmer überlegen, welche Programme der Jubiläumssaison auf später verschoben werden können, doch in der Öffentlichkeit ist es derzeit ziemlich ruhig um Wong. Grund genug, ihn nach dem Stand der Dinge zu fragen – in einem Interview, das per E-Mail im Ping-Pong-Verfahren geführt wurde: auf jede Frage-Mail folgte eine Antwort-Mail und so weiter.

Nürnberg baut nun doch keinen neuen Konzertsaal, was halten Sie von dieser Entscheidung?

Kahchun Wong: Ich habe die Nachrichten über den neuen Konzertsaal verfolgt, noch bevor ich zum Chefdirigenten bei den Nürnberger Symphonikern ernannt wurde. Es wurde klar, dass die Entwicklung der Halle weit fortgeschritten war – bis hin zu den Details der Architektur, der Akustik und der Lage neben der heutigen Meistersingerhalle. In dieses schöne Projekt wurde viel Zeit und Geld investiert. Obwohl die Nachricht von der Absage für uns enttäuschend ist, vertraue und respektiere ich, dass die Behörden diese schwierige Entscheidung angesichts der gegenwärtigen Welt, in der wir heute leben, getroffen haben.

Sie fühlen sich also nicht von der Stadt getäuscht? Als Sie sich als neuer Chefdirigent der Nürnberger Symphoniker vorstellten, sagten Sie, einer Ihrer Gründe für die Entscheidung, nach Nürnberg zu gehen, sei der neue Konzertsaal...

Wong: "Getäuscht" ist in dieser Situation nicht das richtige Wort. Der neue Konzertsaal hätte uns allen in Nürnberg ein ganz neues kulturelles Erlebnis und Eintauchen eröffnet.

Wir hätten unser künstlerisches Streben nach musikalischer Exzellenz weiter verbessern können, mit erstklassiger Akustik und einem belebten neuen Raum, in dem sich unser Publikum vor und nach den Konzerten amüsieren kann. Leider ist die Wahrheit, dass wir diese Gelegenheit derzeit nicht mehr haben.

Was bedeutet das für die Symphoniker?

Wong: Es ändert erst mal nichts an der Art und Weise, wie ich mit meinem Orchester Musik mache. In Ermangelung eines neuen Konzertsaals können wir nur bei jeder Aufführung unser Bestes geben, wie wir es immer getan haben: in der Meistersingerhalle, im Luitpoldhain und in unserem Konzertsaal in der Kongresshalle.

"Normales Musizieren wieder aufnehmen"

Frau Mallwitz, die GMD des Staatstheaters Nürnberg, sagt, sie mache ihren Verbleib in Nürnberg u.a. auch vom Bau des Konzertsaals abhängig. Ist das bei Ihnen anders?

Wong: Meine Entscheidung, nach Nürnberg zu kommen, fiel aufgrund des wunderbaren Musizierens mit dem Orchester und dem Wissen, dass wir gemeinsam neue Höhen erreichen können. So wie ich das sehe, ist jeder Moment des gemeinsamen Musizierens für uns erfüllt. Und das ist entscheidend. Die Pandemie hat es uns schwer gemacht, unser normales Musikmachen wieder aufzunehmen, aber ich freue mich persönlich auf den Tag, an dem wir wieder zusammen spielen können - besonders angesichts unserer 75. Saison.

Trotzdem: Kann Nürnberg den Anschluss an hochklassige Klassikstandorte halten, ohne Konzertsaal? Oder lässt sich dieser Rückstand erst mal nicht mehr aufholen?

Wong: Dies ist eine sehr schwierige Frage.

Es gibt viele Städte auf der Welt mit einer großartigen Kultur der klassischen Musik ohne einen gleichwertigen Konzertsaal. Betrachten Sie München oder London als Beispiele. Dies beeinträchtigt aber nicht die Qualität der Künstler dort. Wir haben die Meistersingerhalle. Sie bleibt vorerst unser Hauptkonzertort. In besseren Zeiten würde ich mich persönlich über weitere Möglichkeiten freuen.

Die Symphoniker wollten in dieser Saison ihr 75-jähriges Jubiläum feiern. Corona macht da einen Strich durch die Rechnung. Nehmen Sie sich die Salzburger Festspiele zum Vorbild, die in diesem Sommer ihren 100. Geburtstag einfach nachfeiern wollen?

Wong: Da haben Sie ein gutes Gespür. Unser Festkonzert "75 Jahre Musik erleben" das ursprünglich für den 5./6. Januar 2021 – mit Moderation von Sabine Sauer– geplant war, verschieben wir mit demselbem Programm auf das Jahr 2022.

"Regelmäßige Mahlzeiten sind zur Norm geworden"

Wie hat Corona Ihr Leben verändert?

Wong: Mir ist klar geworden, dass die Zeit, die ich mit meiner Familie verbringe, die wichtigste ist. Regelmäßige Mahlzeiten mit ihr sind mittlerweile zur Norm geworden. Ich werde diesen Kontakt mit ihr vermissen, wenn das Konzertleben wieder aufgenommen wird.

Wie viele Tage waren sie im Jahr 2019 unterwegs, wie viele im Corona-Jahr 2020?

Wong: Im ersten Quartal 2020 war ich hauptsächlich in Europa unterwegs und trat in Nürnberg auf, aber auch mit anderen Orchestern in anderen Städten. Ende Februar war ich dann wieder in Nürnberg, um mich auf unsere Mahler-Konzerte vorzubereiten. Am Tag vor der ersten Probe wurde angekündigt, dass sie wegen der Pandemie abgesagt werden müsse. Dann schlossen sich die Grenzen nacheinander. Ich kehrte dann für einen Zeitraum von sechs Monaten nach Singapur zurück – die längste Zeit, die ich seit zehn Jahren in meinem Heimatland verbracht habe.



Wie haben Sie diese Zeit gestaltet? Haben Sie mehr Zeit für sich gehabt?

Wong: Ironischerweise habe ich in der Zeit in Singapur härter gearbeitet als je zuvor. Neben der regelmäßigen Kommunikation mit meinen Musikern in Nürnberg, um beim Managen der Krise zu helfen, war ich auch stark an einem digitalen Projekt beteiligt – Beethoven360. An dem nahmen mehr als 1000 Musiker aus der ganzen Welt teil. Wir waren Teil von Child Aid 2020, einer jährlichen Wohltätigkeitsveranstaltung, und haben fast zwei Millionen Singapur-Dollar (ca. 1 250 000 Euro) für den Straits Times School Pocket Money Fund und den Business Times Budding Artist Fund gesammelt, um Kindern zu helfen.

Hoffen wir mal, die Corona-Pandemie gilt eines Tages als überwunden. Wie lange, glauben Sie, wird es dann dauern, bis der internationale Klassikbetrieb wieder das Niveau vor der Krise erreicht hat? Falls er das überhaupt schafft.

Wong: Ich bin absolut davon überzeugt, dass die Pandemie eines Tages überwunden sein wird. Menschen sind stark und vereint, wenn wir es sein wollen. Wenn das passiert, glaube ich, dass die Welt der klassischen Musik viel schneller als erwartet wieder auf die Beine kommen wird.

Wollen Sie Ihr früheres Leben mit vielen Auftritten in verschiedenen Kontinenten wieder aufnehmen, falls das möglich sein sollte? Oder hat die erzwungene Pause durch die Krise auch zu einer anderen Bewertung Ihrer Lebensprioritäten geführt?

Wong: 2020 hat mir viele Lektionen beigebracht. Einer der wichtigsten Punkte ist, dass die Familie wichtig ist. Ich war wegen meines Studiums und meiner Arbeit so lange von meiner Familie entfernt. In Zukunft möchte ich meine Arbeit sehr gerne auf einige bestimmte Regionen konzentrieren und nicht jede Woche von Kontinent zu Kontinent fliegen. Ich habe mich daran gewöhnt, ohne Jetlag aufzuwachen.

Technologische Innovationen

In vielen asiatischen Staaten scheint die Corona-Krise bereits überwunden. Woran könnte das liegen, verhalten sich die Menschen dort anders? Haben die Staaten dort die besseren Rezepte für die Eindämmung der Pandemie?

Wong: Asien ist eine riesige Region, daher ist es schwierig zu verallgemeinern, was auf diesem Kontinent vor sich geht. In Singapur hatten wir zwei Monate lang eine strikte Sperrung.

In dieser Zeit gab es viele technologische Innovationen. Jeder, der ein Geschäft oder ein Einkaufszentrum betritt, muss einen QR-Code an der Tür scannen, um den Eintrag zu registrieren. Wenn ein Corona-Fall vorliegt, suchen die Behörden alle Personen, die sich in der Nähe des infizierten Patienten befunden haben, und stellen sie unter Quarantäne. Singapur hat vor allem deshalb Glück, weil wir eine sehr kleine Insel mit weniger als sechs Millionen Einwohnern sind. Aufgrund unserer einzigartigen Geografie war es viel einfacher, die Einwanderung und die Menschen zu regulieren.

Hat sich die Situation in Ihrer Heimat Singapur also normalisiert? Gibt es dort derzeit Konzerte, Opernaufführungen, läuft das kulturelle Leben?

Wong: Im August letzten Jahres dirigierte ich das Singapore Symphony Orchestra für ein digitales Konzert, das online gestreamt wurde. Das Orchester hatte wegen sicherer Distanzregeln nur 18 Musiker. Live-Konzerte durften bis vor kurzem nicht stattfinden, und wenn, dann nur mit einer sehr geringen Anzahl von Zuschauern. Vor dem Konzert mussten alle einen Covid-Test machen.

Es wird noch einige Zeit dauern, bis sich das kulturelle Leben in Singapur wieder normalisiert.

Wo befinden Sie sich gerade? An welchem künstlerischen Projekt arbeiten Sie im Moment?

Wong: Diese Woche dirigiere ich Mahlers 5.Sinfonie in Toulouse, mit dem Orchester Nationale du Capitole de Toulouse. Ein großes Orchester, wir haben allein 16 erste Geigen. Ich bin positiv überwältigt vom Geist der Musiker. Das Konzert wird aufgrund der Ausgangssperre hier ohne Publikum sein, aber live auf Youtube und Facebook gestreamt. Es ist ziemlich surreal, mitten in dieser Pandemie mit einem riesigen Orchester aufzutreten. Aber es ist ein gutes Symbol: Wir werden zurückkommen.