Partyhimmel oder Feierhölle? Verstörende Bilder aus dem Corona-Hotspot Ischgl

25.2.2021, 14:10 Uhr

Mit der Krücke in die Gummipuppe: Was in Ischgl beim Party- und Sauftourismus so abgeht, überschreitet oft deutlich die Grenzen des guten Geschmacks. Lois Hechenblaikner, selbst ein gebürtiger Tiroler, ist seit 25 Jahren ein Chronist dieses Treibens. © Foto: Lois Hechenblaikner, aus dem Bildband "Ischgl"

Eigentlich ist Ischgl ein 1600-Seelen-Ort im Paznaun, in dem es sich sehr schön Skifahren lässt. Doch seit den 1990er Jahren wurde dort das sogenannte Après-Ski, also das Feiern beim und nach dem Skifahren, zu einem eigenen, monströs aufgeblasenen Geschäftsfeld, das längst Ischgls eigentliche Qualitäten als hervorragendes Skigebiet an den Rand gedrängt hat. Was der Ballermann auf Mallorca, das Oktoberfest in München, ist Ischgl in den Alpen: ein Markenname für die totale Enthemmung.

In Ischgl fließen nicht nur Jagatee, Glühwein, Schnaps, Schampus und Bier in rauen Mengen, nein, das organisierte Rudel-Saufen spült vor allem sehr viel Geld in die Kassen der Einheimischen. Da können drei Flaschen Champagner schon mal über 8500 Euro einbringen, wie auf dem Foto eines zerkratzten Handy-Displays zu sehen ist.

Dokumentiert hat diesen grellbunten Zirkus des Sau-Rauslassens der Fotograf Lois Hechenblaikner. Er ist selber ein gebürtiger Tiroler und in der Tourismusbranche aufgewachsen, hat sich aber den kritisch distanzierten Blick auf das ausschweifende Treiben bewahrt.

Werbung
Werbung



Über 25 Jahre lang hat er über 9000 Motive gesammelt. Dass sein Bildband „Ischgl“ nun erschienen ist, passt wie die Faust aufs Auge, denn im Februar und im März wurde der Tiroler Ort zu einem der Zentren der sich ausbreitenden Corona-Pandemie. Viele, viele Leute haben sich beim wilden Feiern in Ischgl infiziert und dann das Virus durch halb Europa getragen, auch in Deutschland ließen sich zahlreiche Covid19-Fälle nach Ischgl zurückverfolgen.

Partyfunke und Coronavirus

Auf Hechenblaikners hervorragenden Fotos kann man sehen, warum in Ischgl nicht nur der Party-Funke, sondern auch das Virus so leicht überspringt: Die Bilder vereinen den scharfen Blick des Dokumentaristen mit dem Gespür für absurde und durchaus bloßstellende Situationskomik und stehen damit in der besten Tradition der englischen Fotografen-Legende Martin Parr.

Man staunt über Saufgelage von Männern in Indianerkostümen und Rudel Besoffener, die orientierungslos im Schnee liegen; manche sind halbnackt, andere haben sich eingenässt, man denkt an den berüchtigten Kotzhügel des Oktoberfests.



Man schaudert über ins Monströse gesteigerte alpenländische Folklore, hässliche Hotelkästen, Berge von Partymüll und über Bars, die per Alkohol-Fernleitungen mit Stoff versorgt werden. Man erschrickt über grässlich zugerichtete Gummipuppen und wundert sich, warum Männer mittleren Alters, die im realen Leben einen vernünftigen und sicher gut bezahlten Job haben, hier mit einem aufblasbaren Penis auf dem Kopf herumhüpfen. Alkohol und sexuelle Enthemmung lautet die Gleichung, auf die das Geschäftsmodell Ischgl baut.

Hechenblaikner spricht von einer „unheimlichen Dosis an Alkohol“, mit der sicher auch viele Alltagssorgen und Verdrängtes „weggetrunken“ würden. Viele Gäste seien um die 40 oder 50 Jahre alt, nicht wenige geschieden. „Deswegen sagte ich auch immer: Ischgl ist so etwas wie ein hormoneller Second-Hand-Markt“, so der Fotograf.

Dass Ischgl nun durch Corona in die Schlagzeilen geraten ist, nutzt auch der Verlag, indem er ein Motiv Hechenblaikners mit dem Bier gleichen Namens auf dem Buchrücken platziert. Diese Verknüpfung könnte aber den Blick auf das a-soziale Phänomen Ischgl zu sehr in die moralisierende Ecke drängen.

So schauderhaft man den eskalierenden Partytourismus in dem Skiort auch empfinden mag – der Gedanke, dass Corona so etwas wie eine „gerechte Strafe“ für das aus dem Ruder gelaufene Treiben sein könnte, verbietet sich trotzdem. Es ist nicht Aufgabe eines Virus, solche Auswüchse zu unterbinden, sondern der Gesellschaft.



Trotzdem könnten die wilden Zeiten in Ischgl erst einmal vorbei sein. Zumindest wenn Spanien zum Vorbild werden sollte: Auf Mallorca hat die dortige Regierung das Ende von Sauftourismus und Ballermann verkündet – angeblich so lange, bis ein Impfstoff gegen das Corona-Virus gefunden ist. Und ob vorher wieder ein Oktoberfest-Fass angezapft wird, dürfte ebenfalls fraglich sein.