Plattform für die Krise: Ein Franke gründete nebenan.de

10.12.2020, 16:39 Uhr

Es gab eine Zeit, da zweifelte Christian Vollmann daran, ob das mit dem Internet so die richtige Sache ist. Damals, 2002, als die Blase platzte, empfand er auf einmal all das, was da weltweit kommuniziert und gehandelt wurde, "übertrieben und irrational".

Er, der so auf das Netz gesetzt hatte, bereits erfolgreich im Konsumentenbereich mitmischte, war jetzt der Meinung, dass nicht alles, was digital ist, auch normal sein muss. Ihm fehlte ganz einfach das Persönliche, der direkte Kontakt von Mensch zu Mensch in dieser anonymen Gemeinschaft.

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Als das Netz dann auch noch seine wirklich böse Seite zeigte, mit Falschmeldungen und Hasssprache in eine Richtung ging, die gar nicht mehr zu kontrollieren war, hatte Vollmann genug von dieser Art Moderne. Sicher, via Internet konnten auch gute Dinge angestoßen werden; der arabische Frühling etwa wäre nicht möglich gewesen ohne digitale Kommunikation.

Aber trotzdem lief da was aus dem Ruder: "Das Netz zeigte seine Fratze – und ich geriet in eine Sinnkrise", sagt Vollmann, der doch seinerzeit, 1995, so stolz und hoffnungsfroh gewesen war, als er seine erste Email schreiben durfte.

"Ich war so nervös"

Mit einher ging eine andere Entdeckung im ganz normalen Alltag. Vollmann lebte da schon in Berlin und es fiel ihm auf, dass er zwar in einer Großstadt mit unheimlich vielen Leuten war, aber eigentlich niemanden kannte. Nicht einmal seinen direkten Nachbarn. Er machte dann ein ziemlich analoges Experiment. Er klingelte an den Wohnungstüren, um sich vorzustellen: "Ich war so nervös, hatte direkt Angst, abgewiesen zu werden, die Hürde, einfach ‚rüberzugehen‘, war hoch."

Dabei wollte er ja nichts verkaufen oder betteln, nicht spionieren, nur vorstellen wollte er sich, heraus aus dieser Anonymität, den normalen persönlichen Kontakt mit denen von – ja: nebenan.

Es war dann noch ein ziemliches Stück Arbeit, bis Christian Vollmann seine Idee einer Nachbarschaftsbörse funktionierend auf den Markt bringen konnte. Aber der Name war schon mal klar und aus der selbst erlebten Not geboren: heute ist nebenan.de eine Institution.

Kontakt im "echten" Leben

Bundesweit haben sich mehr als 8000 Netzwerke gebildet mit über 1,7 Millionen Nutzern. In ihren überschaubaren, abgegrenzten Gebieten kommunizieren die Teilnehmer via Internet miteinander und lernen sich kennen; der Kontakt in der Wirklichkeit ergibt sich dann meist von ganz alleine.

Nebenan.de hat ein Raster über das Land gelegt, nach Postleitzahlengebieten die Areale abgesteckt, innerhalb denen die Menschen zusammentreffen können. Das erinnert ein bisschen an den begrenzten Umkreis eines Dorfes, und so soll es auch sein.

Es geht eben nicht darum, sich mit irgendjemandem irgendwo auszutauschen, man soll vielmehr denjenigen zunächst mal elektronisch kontaktieren, den man dann auch gleich – im selben Haus oder in der Straße um die Ecke – persönlich kennenlernen will und kann. Das Internet als Werkzeug sozusagen.

Wenn das Ei im Kühlschrank fehlt...

Und tatsächlich ist es auch schon mal der richtige Hammer, der gerade fehlt, wenn man einen Nagel in die Wand schlagen will. Oder das Ei, das in den Teig soll und nicht im Kühlschrank ist. Es sind die Äpfel, von denen man zu viel ernten musste in diesem Jahr; es ist das Kind, das kurz betreut werden sollte, weil man zum Arzt muss, oder auch der Hund, der Gassi soll; es ist das Hausfest, zu dem man einladen möchte, oder einfach der kleine Spaziergang, den man nicht allein unternehmen will.


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Vielleicht auch nur ein Rechenproblem, das man nicht zu lösen vermag, oder der unverbindliche Plausch, dem man bislang aus dem Weg ging, weil man den Nachbarn zwar täglich sah, aber nie ansprach. Wenn es denn sein sollte, dann muss eben der Computer über die Hemmschwelle helfen – die weite Welt wird kleiner.

Aufgewachsen in Dormitz

"Da ging einfach nix mehr z'amm", sagt Christian Vollmann im fränkischen Dialekt, und er weiß genau, wovon er redet. Aufgewachsen ist der heute 45-Jährige nämlich in einem kleinen Ort bei Erlangen. In Dormitz (Landkreis Forchheim) damals war die Welt noch in Ordnung, und ein wenig ist es die Erinnerung an diese gemütliche Umgebung, die den jetzigen Berliner, der längst wie ein lässiger Großstadtmensch mit dem Fahrrad quer durch die Anonymität zu seiner Firma fährt, inspiriert hat.

Der Computer hatte ihn schon früh fasziniert, die Möglichkeiten der grenzenlosen Kommunikation waren für ihn "fesselnd und mitreißend". Nach dem BWL-Studium ging er nach Argentinien und in die USA und wollte im Konsumentenbereich "mitmischen".

Unter anderem gründete er die Partnervermittlung eDarling, die an der New York Stock Exchange gehandelt wurde. Inzwischen ist die verkauft. Aber der Gedanke, Menschen miteinander bekannt zu machen, ist geblieben und führte schließlich zu nebenan.de: Vollmanns dritte Firmengründung, und auch wenn die noch nicht das große Geld abwirft, ist es die Unternehmung, die den Mann zufrieden macht.

Hier stimmt für ihn endlich der Begriff "soziales Netzwerk", weil die kurzen Wege zwischen den Menschen eingehalten und die nachbarschaftlichen und freundschaftlichen Verhältnisse geweckt und gestärkt, soziale Bande geknüpft werden.

Und man kann sich die Sache tatsächlich ganz einfach so vorstellen: beim Bäcker oder im Dorfladen hängte man früher einen Zettel hin, auf dem stand, was man wollte oder zu viel oder zu wenig hatte, und jeder konnte ihn lesen. In Ermangelung einer derartigen einfachen Infrastruktur, kommt da heute eben das Internet ins Spiel.

"Wir matchen Menschen"

Natürlich war zu erwarten, dass die Pandemie Auswirkungen auf diese Dienstleistung haben würde. Aber, dass ihnen "der Server um die Ohren fliegt" in den ersten Wochen des ersten Lockdowns – das war für Vollmann und sein Team dann doch überraschend: "Wir hatten fünfmal soviel Anmeldungen an einem Tag wie sonst."

Hätte es die Plattform in diesen Tagen noch nicht gegeben, man hätte sie erfinden müssen, meint er und zeigt sich erfreut über die "Welle an Solidarität", die er jetzt beobachten kann.

Da gibt es die Helfer, die für den in Quarantäne befindlichen Nachbarn da sind, aber auch immer wieder Menschen, denen die Anonymität auf den Wecker geht, die sich verabreden, um mit Abstand nicht alleine zu sein.

Er fand den Weg aus der Sinnkrise

Selbst wenn es fast ein wenig pastoral klingen mag, man glaubt Christian Vollmann, der von den schlimmen Auswüchsen des weltweiten Netzes so enttäuscht war und einen Weg fand aus seiner Sinnkrise, wenn er sagt: "Es ist erfüllend zu sehen, dass die Plattform jetzt das macht, was wir immer schon wollten."

Und weil er halt immer noch ein globaler Communicationmanager ist, fügt er dann noch neudeutsch hinzu: "Wir matchen Menschen."