Corona: Der Sozialstaat kann helfen, aber nicht jedes Risiko absichern

4.6.2020, 05:38 Uhr

Protest auf den Cannstatter Wasen: Wann immer eine Krise die bundesrepublikanische Gesellschaft heimsucht, entsteht Frust. © Christoph Schmidt, dpa

Wenn das alles einmal vorüber ist, wird sich die Welt womöglich über die Zahlen aus Deutschland beugen und staunen: Wie kann es sein, wird man dann fragen, dass die Deutschen so gut durch die Coronakrise kamen? Wie kann es sein, dass dort so viel weniger Menschen durch das Virus starben, so viel weniger Menschen ihren Job und ihre wirtschaftliche Existenz verloren als anderswo?

Freilich ist noch längst nicht ausgemacht, dass Deutschland die Krisenbewältigung tatsächlich derart erfolgreich gelingt. Über allem schwebt die Gefahr einer zweiten Viruswelle. Doch sie existieren, die Anzeichen, die Hoffnung machen: Die ersten Hinweise, wonach auf dem Arbeitsmarkt das Schlimmste schon überstanden sein könnte, geben jedenfalls Anlass zu dem Optimismus, dass sich – in noch viel größerem Maßstab – wiederholen könnte, was sich nach der Finanzkrise 2009 ereignet hatte. Damals wunderte man sich vor allem in den USA, wie schnell die Deutschen über den Berg waren.

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Einen Grund dafür fanden Experten in der Art und Weise, wie das deutsche Sozialsystem konstruiert ist. Welche Wirkung es entfaltet, lässt sich auch jetzt eindrucksvoll beobachten: 40 Millionen Menschen haben in den USA wegen Corona ihren Job verloren, das käme – auf die deutsche Bevölkerung umgerechnet – zehn Millionen Arbeitslosen in der Bundesrepublik gleich. Doch es sind gerade 600.000 Menschen, die in Deutschland wegen Corona ihren Job verloren. Ja, sechs bis sieben Millionen Menschen stecken in Kurzarbeit, doch das sind eben auch: sechs bis sieben Millionen Menschen, die ihre Arbeit behalten konnten.

Der deutsche Sozialstaat spannt ihnen gleich mehrere Netze auf: Im Regelfall dauert es zwei Jahre (ein Jahr Kurzarbeit und ein Jahr Arbeitslosengeld), bis die unterste Stufe – Hartz IV – erreicht ist. Meist setzen erst dann gravierende Konsequenzen für das Leben der Betroffenen ein.

Zur Wahrheit gehört aber auch: Dieses Netz hat seinen Preis. Zum einen finanziell, denn die Krisenbewältigung wird ganz sicher eines werden: teuer. Zum anderen hat die jahrzehntelange Existenz einer solchen Absicherung in der Bundesrepublik auch die Mentalität nicht aller, aber doch vieler Deutscher geprägt. Aus Forderungen wie der, das Kurzarbeitergeld müsse doch bitte auf 100 Prozent aufgestockt werden – als ob es gar keine Krise gäbe und die Mittel des Sozialstaats per se unbegrenzt seien – spricht der Glaube oder gar die Erwartung, der Staat könne (oder solle) jedes Lebensrisiko absichern.

Eine Illusion. Eine, die regelmäßig dann zerplatzt, wenn eine Krise die bundesrepublikanische Gesellschaft heimsucht – wie 2015 die Flüchtlingskrise und nun, 2020, eben das Virus. Und die dann für Frust sorgt, wie er sich jetzt etwa in den Corona-Demos entlädt.

Die Deutschen täten gut daran, ihren Sozialstaat zwar zu schätzen, ihn aber mit ihren Erwartungen nicht zu überschätzen. Zumal die Übernahme von ein wenig mehr Eigenverantwortung sicher ein Grund mehr wäre für die Welt, staunend nach Deutschland zu blicken.


Hier finden Sie täglich aktualisiert die Zahl der Corona-Infizierten in der Region. Die weltweiten Fallzahlen können Sie an dieser Stelle abrufen. Über aktuelle Entwicklungen in der Corona-Krise


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