"Ewiges Höllenfeuer": Tschernobyl schmerzt seit 30 Jahren

26.4.2016, 11:46 Uhr

Reparaturarbeiten am explodierten ukrainischen Atomkraftwerk Tschernobyl (Aufnahme vom 1. Oktober 1986). © dpa

Düster ragt das stillgelegte Atomkraftwerk Tschernobyl rund 75 Meter hoch in den Himmel der Ukraine. Frisch getünchte Bordsteine und das frühlingshafte Grün der Bäume und Gräser täuschen jedoch. Im Innern der Anlage lodert seit der Katastrophe vom 26. April 1986 ein "ewiges Höllenfeuer": Etwa 200 Tonnen Uran, deren Radioaktivität ein Menschenleben auslöschen würde. Ein Betonmantel schützt die Umgebung vor dem Strahlengift. An diesem Dienstag jährt sich der verheerende Atom-Unfall am Rande Europas zum 30. Mal.

In Deutschland am schlimmsten vom Fallout betroffen war Bayern. Noch heute sind heimische Pilze und Wildfleisch teils noch radioaktiv belastet. Im Knoblauchsland musste sogar Gemüse vernichtet werden.

Werbung
Werbung

"Bei uns fehlte eine Sicherheitskultur", sagt Sergej Paraschin heute. Er war in der folgenschweren Nacht als Vertreter der Kommunistischen Partei im Kraftwerk und wurde später zum Direktor ernannt. Um 1.23 Uhr Ortszeit geriet damals ein Test außer Kontrolle, Reaktor vier explodierte. Der Super-GAU, der größte anzunehmende Unfall, trat ein. Die Detonation wirbelte tagelang radioaktive Teilchen in die Luft, von der damaligen Sowjetrepublik breitete sich die abgeschwächte Wolke über Westeuropa aus. Zehntausende mussten die Region verlassen.

Sarg soll Mensch und Tier schützen

Mit ihrem rostenden Riesenrad wirkt die Geisterkulisse der eilig evakuierten Stadt Prypjat bei Tschernobyl heute wie ein Pompeji der atomaren Ära. 40 Prozent der Sperrzone sind aufgrund des Plutoniums mit 24 000 Jahren Halbwertzeit für immer verstrahlt. Der Rest soll in 30 bis 60 Jahren wieder besiedelbar sein. "Eine Rekultivierung ist aber wirtschaftlich nicht sinnvoll", meint der Verwaltungsdirektor der Zone, Witali Petruk. Wie etwa der im Reaktor verbliebene lavaartige Kernbrennstoff gesichert werden kann, ist völlig unklar.

Reparaturarbeiten am explodierten ukrainischen Atomkraftwerk Tschernobyl (Aufnahme vom 1. Oktober 1986). © Grafik: dpa

Doch die prowestliche Führung in Kiew hat große Pläne. Mächtige Solarkraftwerke sollten in der Sperrzone stehen, heißt es der Hauptstadt - auf 80 Quadratkilometern sei eine Stromerzeugung von 4000 Megawatt möglich. Experten schütteln den Kopf: Solche Projekte übersteigen derzeit die Kräfte des zweitgrößten Flächenstaats Europas, den eine Wirtschaftskrise sowie ein Krieg im Osten und die russische Annexion der Schwarzmeer-Halbinsel Krim auszehren.

Ex-Direktor Paraschin weist auf eine weitere Gefahr hin. "Bei Cäsium 137 ist gerade einmal die Halbwertszeit erreicht", erinnert er. Allein im vergangenen Jahr seien bei Buschfeuern zwei Millionen Kubikmeter Holz verbrannt - da sei vorstellbar, wie viel Gift aufgewirbelt worden sei. Die Rückkehr seltener Tierarten wie Luchsen und Elchen in die Sperrzone führen Experten eher darauf zurück, dass dort kaum Menschen sind. Eine Idylle ist Tschernobyl nicht: Den Tieren schadet die Radioaktivität Untersuchungen zufolge erheblich.

Zehntausende Tode durch Strahlung

Doch nicht nur die Nordukraine wurde 1986 verstrahlt. Die radioaktive Wolke traf vor allem das benachbarte Weißrussland, den Westen Russlands, dann verteilte sie sich Richtung Skandinavien und Westeuropa. Wie viele Menschen an den Folgen gestorben sind, ist umstritten. Experten gehen von Zehntausenden Todesfällen aus.

Verwaltungschef Petruk ist jedoch insgesamt optimistisch. "In 30 Jahren hat sich die Lage hinsichtlich der radioaktiven Sicherheit verbessert", sagt er. Petruk meint damit auch den neuen Schutzmantel, einen riesigen Stahlbogen, der derzeit im Bau ist. Die halbrunde Konstruktion soll 2017 über den Reaktor geschoben werden. Mit 100 Metern Höhe hätte die Pariser Kathedrale Notre Dame darunter Platz.

Reparaturarbeiten am explodierten ukrainischen Atomkraftwerk Tschernobyl (Aufnahme vom 1. Oktober 1986). © Andreas Stein (dpa)

Der neue ukrainische Umweltminister Ostap Semerak unternahm vor wenigen Tagen seine erste Amtsreise zu dem Schicksalsort. Er inspizierte den Bau der neuen Hülle, die für die nächsten 100 Jahre die Ruine vor dem Eindringen von Wasser und dem Entweichen von Staub schützen soll. Etwa 40 Staaten beteiligen sich an den mehr als zwei Milliarden Euro Kosten für den dringend benötigten neuen "Sarkophag".

"Etwas mehr als 1400 Menschen arbeiten derzeit an der neue Hülle", sagt Abteilungsleiter Pjotr Britan der Deutschen Presse-Agentur auf der gewaltigen Baustelle in Sichtweite des havarierten Reaktors. In einer spektakulären Aktion sollen am Ende etwa 29 000 Tonnen Stahl über den radioaktiv strahlenden Betonklotz gedrückt werden.

Polen steigt erst aus, dann ein

In Deutschland und anderen Staaten sorgte der Tschernobyl-Schock vor 30 Jahren für Angst und Unsicherheit. Die junge Ökobewegung erhielt Auftrieb. Als Reaktion richteten sogar konservative Regierungen Umweltministerien ein. Wegen Tschernobyl legte Italien 1987 seine AKWs still, Polen brach 1989 den Einstieg ab, um nur ein Jahr später mit den Bau von zwei Reaktoren zu beginnen. 

2007 beschloss die polnische Regierung die Fertigstellung von zwei Reaktoren bis 2025, die ersten in der Geschichte des Landes. Polen will sich damit unabhängig von Kohle und Energieimporten aus Russland machen. Die Schweiz will ihre Reaktoren bis 2034 auslaufen lassen. Andere Länder wie die USA halten an der Kernkraft fest. Auch Japan steigt nicht aus, trotz Fukushima.

Die Kernschmelze im Kraftwerk Fukushima war 2011 ähnlich katastrophal wie in Tschernobyl 25 Jahre zuvor. Die beiden Unfälle veränderten die Diskussion über die Atomkraft. Deutschland beschloss 2011 den Ausstieg. Aktuell sind hierzulande noch acht Atomkraftwerke in Betrieb, drei davon in Bayern, nämlich Grundremmingen B und C sowie das Kraftwerk Isar 2. Im Jahr 2022 soll dann Schluss mit der Atomenergie sein. Die Suche nach einem sicheren Endlager dauert derweil an.