Gleichbehandlung - nicht Gleichmacherei

25.1.2021, 16:19 Uhr

Privilegien für Personen, die bereits gegen Corona geimpft wurden, werden derzeit stark diskutiert. © Harald Sippel, NN

Privilegien für Corona-Geimpfte, Ausnahmen von der Maskenpflicht, Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen: Häufig ist in dieser Krise die Rede von Gleichbehandlung. Doch nicht jede differenzierte Behandlung ist auch diskriminierend. Zur Zeit ist immer wieder von Gleichbehandlung die Rede – doch dies meint nicht Gleichmacherei.

Werbung
Werbung

Familie Mustermann in der Pandemie

Stellen Sie sich die Familie Max und Eva Mustermann vor. Ein Ehepaar mit Kindern und Großeltern. Die Großeltern väterlicherseits leben in einem Seniorenwohnstift, die Großeltern mütterlicherseits in der eigenen Wohnung. Seit Monaten durften sich die einzelnen Familienmitglieder nur eingeschränkt treffen. Jetzt sind alle Großeltern geimpft, sie gehören zu jener Gruppe, über die Politiker sagen, sie dürften keine „Sonderrechte“ genießen.

Vor Beginn der Pandemie haben sich die Großeltern häufig getroffen – sie spielten regelmäßig Karten. Unterstellt, die Impfung senkt die Wahrscheinlichkeit, selbst zu erkranken oder andere anzustecken, ganz erheblich, und die vier Personen können weder sich selbst noch andere Menschen anstecken, warum also sollten ihre Grundrechte weiterhin eingeschränkt werden?
„Aufgrund des Virus leben wir in einer Gefahrenlage, die es rechtfertigt, Bürger in ihren Grundrechten einzuschränken. Diese Maßnahmen müssen der Gefahr angepasst sein: sie müssen geeignet, erforderlich, und verhältnismäßig sein. Fällt aber die Gefahr weg, müssen die Einschränkungen auch wieder aufgehoben werden – das ist kein Privileg, sondern rechtlich notwendig“, stellt Anuscheh Farahat klar. Sie ist Professorin für Öffentliches Recht, Migrationsrecht und Menschenrechte und leitet das Institut für Deutsches, Europäisches und Internationales Recht an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.
Angenommen, die Großeltern Mustermann, die Bewohner und Mitarbeiter mehrerer Altenheime sind geimpft – sie könnten sich zu Dutzenden in einer Turnhalle zum Karten spielen treffen. Ein Gesunder darf vom Staat nicht wie ein Kranker behandelt werden. Er leidet nicht unter einer Infektion, er stellt keine Gefahr für andere Menschen dar.

Maskenpflicht: Der Einzelfall entscheidet

Vater Max Mustermann leidet unter Asthma. Er braucht Tabletten und Sprühdosen, wenn ihm das Atmen wieder schwer fällt; und wenn er eine Maske trägt, fühlt es sich an, als würde ihm jemand Nase und Mund gleichzeitig zuhalten. Zwar ist der Mund-Nase-Schutz aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken, doch Max Mustermann hat ein ärztliches Attest, dass ihn von der Maskenpflicht befreit. Allerdings hilft ihm das Attest wenig. Wenn er könnte, würde er seine Krankheit gegen eine Maske eintauschen. Denn seinen Arbeitsweg zu der Bankfiliale, in der er arbeitet, legt er mit öffentlichen Verkehrsmittel zurück. Und in der Bahn wird er immer wieder angefeindet. Kann Max Mustermann als Kunde abgewiesen werden?
„Man könnte hier an eine mittelbare Diskriminierung aufgrund einer Behinderung denken, wenn man denn diese Asthma-Erkrankung als Behinderung einstufen kann. Eine mittelbare Diskriminierung liegt vor, wenn sich scheinbar neutrale Vorschriften auf eine bestimmte Personengruppe diskriminierend auswirken. Allerdings kommt es hier unter Umständen gar nicht darauf an, denn die Bundesländer haben für Menschen, die aus medizinischen Gründen keine Maske tragen können, in ihren Verordnungen Ausnahmen zugelassen: Um sich der Pflicht, eine Maske zu tragen, zu entziehen, genügt es aber Fall nicht, sich bloß unwohl zu fühlen. Es müssen medizinische Gründe vorliegen, die das Tragen der Maske unmöglich machen“, so Professorin Farahat. Doch auch die Mitarbeiter von Läden dürfen sich vor einer eventuellen Ansteckung schützen, ohne sich automatisch den Vorwurf der Diskriminierung einzuhandeln: „Ein Friseur, der seinen Kunden nahe kommt, darf wohl eher einen Kunden ohne Maske abweisen, als ein Kassierer in einem Supermarkt, der von einer Plexiglas-Scheibe geschützt wird. Es gilt, immer den Einzelfall abzuwägen“, so die Juristin.

Eva Mustermann erledigt, da ihr Mann ohne Maske immer wieder aus Geschäften hinaus gebeten wurde, die Einkäufe alleine. Justizsprecher Friedrich Weitner: „Es ist ein wesentlicher Punkt in unserer Rechtsordnung, dass jeder frei entscheiden kann, mit wem er Verträge abschließen will. Auch im Inhalt ist man frei, stößt aber an Grenzen, etwa wenn der Vertragsinhalt sittenwidrig ist. Sittenwidrig wäre zum Beispiel eine Vereinbarung über Schmiergelder. Auch Wucher verstößt gegen die guten Sitten.“ Deshalb kann ein Ladeninhaber grundsätzlich entscheiden, wen er in seinen Laden lässt und wen nicht.

Die Sache mit der Impfpflicht

Am Morgen gibt es Ärger in der Notbetreuung: Eva Mustermann hört von einer Mutter, dass die Notbetreuung ein Kind nicht aufnehmen will – es wurde nicht gegen die Masern geimpft. Doch das Masernschutzgesetz sieht seit März 2020 vor, dass alle Kinder ab dem vollendeten ersten Lebensjahr beim Eintritt in den Kindergarten oder die Schule einen ausreichenden Impfschutz gegen Masern oder eine Immunität vorweisen müssen. Die Mustermanns diskutieren über die Impfpflicht. Können ihre Vorgesetzten verlangen, dass sie zur Corona-Impfung antreten?

Es gibt keine gesetzliche Impfpflicht, „daher kann der Arbeitgeber auch keine Impfpflicht anordnen“, stellt Marc-Oliver Schulze, Fachanwalt für Arbeitsrecht in der Nürnberger Kanzlei afa, fest. Aber Eva Mustermann arbeitet in einer Arztpraxis, und gerade in Arztpraxen, Heimen und Krankenhäusern muss die Verbreitung von Krankheitserregern vermieden werden. Lässt sich Eva Mustermann nicht impfen, muss „ihr Chef prüfen, ob er sie ohne Impfung in einem Bereich einsetzen kann, in dem ein Impfschutz nicht zwingend notwendig ist, etwa im Homeoffice nur noch zur Terminvereinbarung“, sagt Arbeitsrechtsexperte Schulze.
Bereits jetzt müssen sich Mitarbeiter in Gesundheitsberufen regelmäßig testen lassen. Schulze hält es für vorstellbar, dass künftig - wie bei den Masern - für bestimmte Bereiche ebenfalls eine Impflicht eingeführt wird. Obwohl es eine Impfpflicht (noch) nicht gibt, lassen vereinzelte Arbeitgeber schon heute nur Beschäftigte in den Betrieb, die sich impfen lassen. Schulze erwartet in den nächsten Monaten einige Verfahren vor den Arbeitsgerichten und unterschiedliche Entscheidungen dazu, ob die Persönlichkeitsrechte des Arbeitnehmers oder die Gefahr der besonderen Pandemielage überwiegen.
Max Mustermann fürchtet dagegen keine arbeitsrechtlichen Konsequenzen. Wenn er in seiner Bankfiliale Kontakt zu Kunden hat, sitzt er hinter einer Trennscheibe aus Glas.
Hier zeigt sich wieder die Idee des allgemeinen Gleichbehandlungsgebots: Frau Mustermann arbeitet in einem Gesundheitsberuf, Herr Mustermann nicht. Sie gleich zu behandeln, hieße Äpfel und Birnen zu vergleichen.

Einkaufskorb und Kinderwagen

Am Nachmittag ruft der verärgerte Großvater an: Er ist auf einen Rollator angewiesen und sollte, als er eine Drogerie betreten wollte, einen Einkaufskorb verwenden – auf diese Weise zählt der Markt die Kunden. Doch der Mann kann sich nicht gleichzeitig mit dem Rollator und dem Einkaufswagen bewegen, eine Ausnahme wurde für ihn nicht gemacht. Nun will er sich an die Antidiskriminierungsstelle wenden. Auch hier stößt die Vertragsfreiheit an ihre Grenzen. Justizsprecher Friedrich Weitner verweist auf das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz: „Es verbietet in Paragraph 19 eine Benachteiligung wegen Behinderung, der ethischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion, des Alters oder sexuellen Identität. Und eben dies, Benachteiligung wegen Behinderung, ist dem Großvater widerfahren.“ Der Anruf des Großvaters löst eine Diskussion in der Familie aus – und jedes Familienmitglied berichtet von einer erlebten Ungerechtigkeit. Doch wieder stellt sich die Frage: Ist jede differenzierte Behandlung auch diskriminierend?

Eva Mustermann erinnert sich an ein Café in der Innenstadt, in das sie, als der jüngste Sohn noch klein war, mit dem Kinderwagen nicht eingelassen wurde. Weitner: „Dies ist kein Fall des Gleichbehandlungsgesetzes, Paragraph 19 listet die Kriterien, wie oben ausgeführt, auf. Hier haben wir es mit keinem der dort genannten Kriterien zu tun, daher durfte der Zutritt verweigert werden. Es gilt die Vertragsfreiheit.“

Dresscode ja, Diskriminierung nein

Tochter Mustermann erinnert sich an die Warteschlangen vor den Nürnberger Szene-Clubs: Nicht jeder ihrer Freunde kam am Türsteher vorbei – „heute nur Stammgäste“ hieß es immer wieder. In der Clique habe man damals diskutiert, dass junge Frauen im kurzen Rock immer eingelassen wurden, die Toleranz jedoch endete, wenn junge Männer aussahen wie Türken oder Araber.
„Präsentiert der Geschädigte Indizien für eine Ungleichbehandlung nach dem Paragraf 19, etwa der Gast, dem der Zutritt in die Disco verwehrt wird, muss der Discobetreiber beweisen, dass er aus keinem der in Paragraf 19 genannten Gründe benachteiligt hat, “ sagt Friedrich Weitner. Vielleicht aber war nur die Marke der Turnschuhe, die dem Türsteher missfiel? Beim Opernball, so argumentiert die Mutter, dürfte der Veranstalter auch Smoking und bodenlange Roben fordern.



Professorin Farahat mahnt zur Vorsicht: „Ein Dresscode ist gestattet. Wer aber einen Dresscode verlangt, muss aufpassen, dass er nicht mittelbar diskriminiert, etwa weil eine bestimmte Turnschuhmarke ohnehin nur von Menschen getragen wird, die einer bestimmten Religion angehören. Ein weiteres Beispiel: Kein Einlass für Bartträger könnte unter Umständen zu eine mittelbaren Diskriminierung für gläubige Muslime darstellen.“

Und was ist mit Fußball?

Die Grenze, an der die fränkische Gemütlichkeit endet, erlebte auch Max Mustermann: Als im Nachbarschaftsduell wieder einmal die Nürnberger und Fürther Fußballer aufeinandertrafen, sah er, wie im Derby-Fieber eine Fürther Gastwirtin einen Mann, erkennbar in den Club-Farben gekleidet, aus ihrem Lokal schickte. Sie darf differenzieren und darf sich aussuchen, wen sie bedient – und wen nicht. Diskriminierend wäre es, den Gast aufgrund einer Behinderung oder seiner Religion nicht einzulassen.