Lockdown-Alternative? Boris Palmer erklärt den Tübinger Weg

31.3.2021, 05:55 Uhr

So sieht die "Eintrittskarte" zum Einkaufen und für Kneipenbesuche in Tübingen aus: Boris Palmer mit einem Tagesticket, das man nach einem negativen Corona-Schnelltest erhält. © Yann Schreiber, afp

Herr Palmer, erklären Sie mal knapp das Tübinger Modell – wie funktioniert das?

Boris Palmer: Das Prinzip ist:. Erst testen, dann shoppen oder schlemmen. Also: Sie machen einen Schnelltest, kriegen einen Tagespass, der bestätigt, dass Sie negativ waren – und das ist die Eintrittsbedingung für die Außengastronomie, das Theater oder für den Handel.


Werbung
Werbung


Frühsommerwetter am Wochenende – da wird Tübingen voll gewesen sein, Herr Palmer. Zu voll? Sie mussten eingreifen, hört man...

Boris Palmer: Das war am Freitag abend, als Jugendliche feierten, die dann jede Vorsicht fallen lassen. Aber am Wochenende war's dann okay. Ich habe mit einem Alkoholverbot ab abends um 20 Uhr reagiert, das wurde akzeptiert. Tagsüber war's weniger voll als am Freitag. Wir haben das durch die Drosselung der Tickets für Auswärtige ganz gut unter Kontrolle.

Wie lang läuft Ihr Versuch noch?

Boris Palmer: Bis 18. April ist er genehmigt, dann gibt es eine Bilanz.

Sind Sie bisher zufrieden, wie's läuft?

Boris Palmer: Es gibt verschiedene Aspekte. Der erste ist die Organisation des Ganzen. Da gibt’s bei einem Projekt, das man aus dem Boden stampft, jeden Tag neue Probleme – aber im großen und ganzen läuft's. Wir haben immer genügend Testkapazitäten auf der Straße. Dann ist die Frage: Kommen der Handel und die Gastronomie klar? Sieht so aus – es hätte ja auch sein können, dass sich kein Mensch testen lässt, niemand kommt, weil alle Angst haben. Nein, das ist nicht so, die Umsätze sind wie im März 2019. Der Handel kommt damit klar, es gibt genügend Leute, die bereit sind, sich testen zu lassen.

"Da brauchen wir noch mehr Daten"

Am schwersten zu beantworten ist die Inzidenzfrage, weil die noch nicht ganz aussagekräftig bewertet werden kann. Wir sehen alle, dass die Zahlen im Landkreis steigen. Die spannende, schwierige Frage ist. Wie sind sie in der Stadt? Was sagt das über unseren Versuch? Das kann man noch nicht seriös beantworten. Da brauchen wir noch mehr Daten.

Wie hoch ist die Inzidenz in etwa in der Stadt?

Boris Palmer: Bereinigt etwa bei 66 – ein Anstieg.

Wer hat den Versuch erfunden? Waren Sie involviert?

Boris Palmer: Das Prinzip ist so einfach, das hat niemand erfunden. Das kann man seit einem Jahr nachlesen, dass dies eine Option wäre. Wir probieren es halt mal aus. Unsere Notärztin Lisa Federle und ich haben das konkrete Modell für Tübingen entwickelt.

Wer finanziert die Tests?

Boris Palmer: Die Tests an den Stationen finanziert primär der Bund, das entspricht ja genau dem Konzept des Bundes, dass er den Bürgern Tests anbieten möchte. Für weitere Tests etwa bei Friseur- oder Massage-Besuchen übernimmt das Land die Kosten.

Wie viele Menschen lassen sich testen?

Boris Palmer: Wir haben in der vergangenen Woche fast 40 000 Tagestickets ausgegeben, gut 6000 pro Werktag.

Empfehlen Sie Ihr Modell als Vorbild für andere Städte?

Boris Palmer: Erst, wenn ich weiß, ob es wirklich funktioniert. Die Frage ist ja, ob wir damit das Infektionsgeschehen besser kontrollieren können als mit dem herkömmlichen Lockdown. Und die ist noch nicht zu beantworten, Ich vermute das, aber ich kann es noch nicht belegen.

Es ist nun bei Angela Merkel und anderen wieder viel von einem harten Lockdown die Rede, der eventuell kommen soll. Was halten Sie von der Debatte?

Boris Palmer: Mich befremdet vor allem, dass wir auch ein Jahr nach dem Beginn der Pandemie nur über eine Sache streiten – nämlich: Wie hart kann der Lockdown sein? Alternative Strategien, die weniger Schaden anrichten, verfolgen wir weiter nicht mit dem gebotenen Ernst. Ich hab' der Kanzlerin vor zwei Monaten einen Brief geschrieben, falls die dritte Welle kommt und die Mutation so schlimm ist, wie sie damals schon gesagt hat, dann brauchen wir neue Instrumente vor allem der Nachverfolgung mit digitalen Techniken. Aber da ist nichts passiert. Hätten wir eine wirksame Corona-App, die Bewegungsprofile aufzeichnen und Kontakte mit Infizierten dem Gesundheitsamt melden kann, dann hätten wir die Sache schon unter Kontrolle.

"Der Lockdown müsste das letzte Mittel der Wahl sein, nicht das erste"

Ich halte es für einen ganz schlimmen Fehler, solche Optionen zu ignorieren und immer nur über den Lockdown zu reden. Was nicht heißt, dass der falsch sein muss. Aber er müsste das letzte Mittel der Wahl sein und nicht das erste.

Manche blicken mit Skepsis auf Ihr Tübinger Modell. Karl Lauterbach fordert den Abbruch und schrieb: "Auch Tübingen schafft es nicht..." Können Sie ihn widerlegen?

Boris Palmer: Dafür ist es zu früh. Aber ich kann schon einiges widerlegen von dem, was er gesagt hat. Das beruht im wesentlichen auf einem Missverständnis. Zum einen verwechselt er den Kreis mit der Stadt. Und die Inzidenz im Landkreis sagt über unser Infektionsgeschehen in der Stadt nichts aus. Der Versuch wird aber ja nur in der Stadt durchgeführt.

"Wir wollen Infizierte herausfischen"

Zum anderen ist es ein Missverständnis, es ginge uns nur ums Öffnen. Das ist nicht der Fall. Es geht um eine andere Art der Kontrolle der Pandemie, nämlich durch sehr intensives Testen die Infizierten rauszufischen, bevor sie andere anstecken können. Die Hoffnung ist, dass man damit genau so gut fährt wie mit den allgemeinen Kontaktbeschränkungen. Ich halte das für möglich, weil wir an den Stationen 30 Bürger aus dem Landkreis Tübingen herausgefischt haben, die nicht wussten, dass sie infiziert sind.



Auch in Bayern wird über Modellregionen für ähnliche Testläufe diskutiert. Nun sagte der Präsident des bayerischen Gemeindetags, er sei da grundsätzlich dagegen, weil es nur den Einkaufstourismus fördere und zu neuen Hotspots führe. Wie ist das in Tübingen? Woher kommen die Besucher? Gibt es da auch Tourismus?

Boris Palmer: Wir hatten leider, vor allem wegen der umfangreichen bundesweiten Berichterstattung, auch echte Ferntouristen etwa aus dem Sauerland. Das war zahlenmäßig aber noch im Rahmen. Und wir haben gegengesteuert, indem wir die Ticketausgabe an Auswärtige eingeschränkt haben auf höchstens 3000 Tickets pro Tag. Über Ostern geben wir gar keine Tickets an Auswärtige aus. Wir wollen ja nicht herausfinden, wie viele Leute man in eine kleine Stadt pressen kann, sondern ob das örtliche Infektionsgeschehen unter Kontrolle gebracht werden kann.

Die Reaktionen im Netz auf Ihren Versuch sind heftig: „Faschismus pur“ heißt es da wegen Ihrer Kontrollen oder „Wie damals bei Adolf“... Sie bekamen auch etliche Morddrohungen.

Boris Palmer: Das wird immer schlimmer – diese Radikalisierung aus mehreren Richtungen. Einerseits sind da diejenigen, die mir vorwerfen, Menschenversuche auszuführen und die mir Standgericht androhen, weil ich schuld sei am Tod all der Menschen, die sich infizieren, weil wir hier öffnen.

"Ein unfassbarer Nazi-Shitstorm, befeuert von Attila Hildmann"

Andererseits gibt es, von Attila Hildmann befeuert über seinen Telegram-Account, einen unfassbaren Nazi-Shitstorm. Da wird mir unterstellt, dass mein jüdischer Großvater der Beleg dafür sei, dass das Weltjudentum die Deutschen entrechten und knebeln und mit Chips ausstatten will – und ich bin der Hauptagent dieser Bewegung. Mein Mailaccount ist voll mit solchem Irrsinn.

Wenn Sie Mitte April Bilanz ziehen werden, kann es dann auch sein, dass Sie sagen: War doch ein Fehlschlag, unser Versuch?

Boris Palmer: Das kann sein. Das ist ein echter Versuch mit offenem Ausgang. Wir wollen herausfinden, ob das Herausfischen der unwissend Infizierten einen stärkeren Kontrolleffekt auf die Pandemie hat als die zusätzlichen Infektionsrisiken durch mehr menschliche Kontakte. Welcher dieser beiden Effekte stärker ist, wissen wir nicht, und genau das wollen wir in einem Reallabor überprüfen. Die Uni Tübingen wertet das Ganze wissenschaftlich aus.