Ice Tigers: Bodnarchuk wartet auf das erste Spiel

23.10.2020, 05:55 Uhr

Andrew Bodnarchuk wartet, genau wie alle anderen bei den Ice Tigers, auf das erste Spiel. © Sportfoto Zink / Thomas Hahn, Sportfoto Zink / ThHa

O Canada, we stand on guard for thee. Und Andrew Bodnarchuk stand wirklich wachsam da, hinter der Bande im Air Canada Center in Toronto an diesem 3. April 2010. Er trug das Trikot der Boston Bruins, aber erst als alle die kanadische Hymne sangen, erfasste den Kanadier die Größe des Moments. Bodnarchuk dachte an die Mühen, die es ihn und seine Familie gekostet hatte auf dem Weg in die beste Liga der Welt. "Ich hätte heulen können", sagt er. "Wahrscheinlich habe ich geheult."

Bodnarchuk: Espresso in der Sonne

Bodnarchuk lächelt, als er sich an sein erstes Spiel in der National Hockey League erinnert. Er lächelt, weil es ihm gut geht – in Nürnberg, an diesem 22. Oktober 2020. Es ist ein guter Tag, um zu lächeln und sich einer Zeit zu erinnern, in der man das Wort "Pandemie" nur aus Hollywood-Filmen kannte. Es ist T-Shirt-Wetter, der Sommer sieht im Stamm-Café der Ice Tigers auch nicht anders aus. Masken tragen nur die Servicekräfte. An einem normalen Mittwochmittag wäre mindestens ein Tisch mit Eishockey-Profis besetzt. Aber allein dass Bodnarchuk der Einzige ist, der seinen doppelten Espresso in der Sonne genießt, lässt darauf schließen, dass es normale Mittwochmittage so schnell nicht mehr geben wird.

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Die Ice Tigers haben ihre Spieler in die 2. Liga und in die Oberliga verliehen, weil Eishockeyspieler im Oktober Eishockey spielen sollen. Die Ice Tigers aber können ihre Spieler fürs Eishockeyspielen derzeit nicht bezahlen, zumindest noch nicht. Zweimal wurde der Saisonstart bereits verschoben, weil Geschäftsführer von Eishockeyklubs wissen, dass am Ende einer Saison ohne Zuschauer das Missverhältnis zwischen Ausgaben und Einnahmen zu groß sein wird. Noch größer als sonst. Am 18. Dezember könnte es trotzdem losgehen – hieß es, bevor "exponentielles Wachstum" Praxisbeispiel wurde.

Corona: Bodnarchuk kennt alle Zahlen

Andrew Bodnarchuk kennt die Zahlen. Er weiß, wo der aktuelle Inzidenzwert für seine Wahlheimatstadt liegt und was das bedeutet. Er weiß auch, dass nicht nur ältere und zuvor schon kranke Menschen mit schweren Verläufen zu rechnen haben. Sein Berater versorgt ihn mit Gerüchten rund um die Deutsche Eishockey Liga. Von Kumpels weiß er, wie andere Klubs planen, beziehungsweise, dass sie eben nicht planen. Über den Sommer aber hat er gelernt, dieses Grundrauschen auszublenden. "Wie wir alle bin ich zum Politiker und zum Wissenschaftler geworden", sagt er – ganz ernst. "Aber wie wir alle kann ich nichts daran ändern. Also warte ich und warte und warte. Und kümmere mich um die Dinge, die ich beeinflussen kann."

Ein Tag ohne Bewegung ist kein guter Tag

Zum Beispiel um seinen Körper. Bodnarchuk zählt zu jenen Menschen, für die Sport keine Qual ist, sondern Notwendigkeit. "Ein Tag, an dem ich mich nicht bewege, ist kein guter Tag." Für seine aktuelle Situation ist das die beste Voraussetzung. Weil der Vertrag mit den Ice Tigers noch nicht gültig ist, darf er nicht in der Arena trainieren. Also hat er sich selbst ein Fitnessstudio und eine Leichtathletikbahn gesucht, um zu pumpen und zu rennen. "Tatsächlich ist das kein Problem für mich. Auch wenn ich derzeit nicht dafür bezahlt werde, ist mein Job immer noch Eishockeyspieler. Und wenn es losgeht, werde ich bereit sein."

Tochter Lila ist der "größte Eishockey-Fan der Welt"

In der Stunde im Café jammert Bodnarchuk kein einziges Mal, er schimpft auch nicht auf Funktionäre oder Politiker. Stattdessen sagt er: "Ich bin extrem privilegiert." Aber dass er seit Mitte Juli in Nürnberg ist, in einer Stadt, in der er sich offensichtlich wohlfühlt, die aber 5500 Kilometer Luftlinie von seiner wahren Heimat Halifax entfernt ist, und dass er seine drei Jahre alte Tochter Lila, "den größten Eishockey-Fan der Welt", seit fünf Monaten nicht gesehen hat, das setzt ihm zu. Er sagt es nicht, aber man sieht es ihm an.



Sein erstes NHL-Spiel wurde damals live übertragen: "Hockey Night in Canada" – für Kanadier ist das ein Gottesdienst. Er wurde in der ersten Drittelpause interviewt. Es folgten 41 weitere Spiele auf der größten Eishockey-Bühne. In der AHL hat er den Calder Cup gewonnen, Sidney Crosby, Nathan MacKinnon und Brad Marchand zählen zu seinen besten Kumpels. Er hat viel gesehen, viel erreicht. Nach Nürnberg ist er gekommen, um all das weiterzugeben und um Eishockey zu spielen. Und weil er weiter daran glaubt, ist er geblieben und wartet und wartet und wartet.