Wirtschaft

Plötzlich fehlt Plastik: Die neue Mangelwirtschaft

11.5.2021, 09:45 Uhr

Vor allem zu Beginn der Pandemie horteten viele Kunden Toilettenpapier. Mit der Folge, dass Folienherstellern das Material aus den Händen gerissen wurde. Vereinzelt fand sich im Sommer sogar Papier mit Weihnachtummantelung. Für den Verbraucher irrelevant, für die Branche aber höchst ungewöhnlich.  © imago images/Steinach, NNZ

Bisher ging es in der Diskussion rund um Plastik vor allem um dessen Vermeidung. Weil der Müll unsere Meere flutet, weil die Überbleibsel unserer Konsumgesellschaft jährlich über eine Million Meerestiere das Leben kostet. Und weil zurecht die Plastikummantlung von Gurke und Paprika hinterfragt, die gesundheitsschädigenden Folgen von Inhaltsstoffen, die bei Zersetzungsprozessen freigesetzt werden, zunehmend ins Scheinwerferlicht geraten sind. Doch nun, da sich der weltweite Bedarf an Kunststoffen auf 400 Millionen Tonnen heraufgeschraubt hat, wird das Symbol des materiellen Überflusses plötzlich zur Mangelware. Und nahezu alle Branchen schreien auf.

Gaben in einer Umfrage des Ifo-Institus für Wirtschaftsforschung im Januar noch 17 Prozent der Hersteller von Gummi- und Kunststoffwaren an, von Materialknappheit betroffen zu sein, waren es im April bereits 71 Prozent. Der Virologe Hendrik Streeck bangt um die Verfügbarkeit von Corona-Tests, der in München ansässige Labordienstleister Synlab hat bereits seine Lieferketten angepasst, ein lokales Lieferantennetzwerk aufgebaut und lässt etwa Pipettenspitzen für seine Corona-PCR bei einem bayerischen Unternehmen produzieren.

„Die Kunststoff-Verpackungsindustrie ist global vernetzt“, erklärt Mara Hancker, Geschäftsführerin des Branchenverbandes Industrievereinigung Kunststoffverpackungen (IK). „Entsprechend ist die Branche auch sehr anfällig, wenn es an der einen oder anderen Stelle einmal hakt.“

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Und plötzlich ist der Suezkanal ganz nah

Und gehakt hat es zuletzt an vielen Stellen gleichzeitig. Hauptgrund ist – wenig überraschend – die Corona-Pandemie. Erst lagen Frachtschiffe oft tage- und wochenlang untätig vor Anker. Weil Ware nicht produziert wurde oder weil Empfängerländer die Einschleppung des Coronavirus fürchteten. Als Produktion und Nachfrage wieder Fahrt aufnahmen, tat letztere das so heftig, dass sich die Preise für Schiffscontainer teils vervierfachten.

Hinzu kam, dass Asien und speziell China laut dem Gesamtverband Kunststoffverarbeitende Industrie (GKV) bereits in der zweiten Jahreshälfte 2020 auf den Wachstumspfad zurückgekehrt sind, deutlich früher als Europa. Viele Rohstoffe aus dem Mittleren Osten und den USA wurden und werden daher nach Asien umgelenkt – und fehlen anderswo.

Es hakt. Und das an vielen Stellen gleichzeitig.

Doch damit nicht genug. Als die Zeichen auf Flaute standen, hielten das viele Rohstoffproduzenten für einen günstigen Zeitpunkt, ihre Anlagen zu warten. Das dauert laut IK-Geschäftsführerin Hancker aber nicht Tage oder Wochen, sondern Monate. Entsprechend hoch sind die Ausfälle. Auch die höhere Gewalt – im internationalen Handel als Force Majeure-Meldungen bezeichnet – schlug zu, etwa in Form von Winterstürmen in Texas, die die Energieversorgung und die erdölnahe Industrie lahmlegte.



Die Konsequenz sind massive Engpässe bei Polypropylen, kurz PP, aber auch bei Hart-Polyethylen (HDPE) und Weich-Polyethylen (LDPE). Alle drei gehören zu den am häufigsten verwendeten Standardkunststoffen und werden vor allem im Verpackungsbereich eingesetzt.
„Wenn man Tag für Tag mit diesen sich immer mehr zuspitzenden Problemen zu tun hat, ist Ihnen ein im Suezkanal feststeckendes Schiff plötzlich ganz nah. Weil es über Umwege auch die eigene Produktion betrifft“, sagt Knut Neumann, Geschäftsführer der fränkischen Polyden-Folienfarbrik.

"Das ist eine Situation, die ich so noch nie erlebt habe"

Letztes Jahr habe er noch Mitarbeiter in Kurzarbeit schicken müssen, weil die Nachfrage bis auf Plastikverpackungen für Toilettenpapier in fast allen Bereichen eingebrochen war. Und jetzt, wo sich die Kundenorder vervielfacht hätten, wo der Bedarf etwa an Bäckertüten für Discounter oder Warenbeutel für den Onlinehandel durch die Decke gegangen ist, fehle es an Material. „Das ist eine Situation, die ich so noch nie erlebt habe.“



Eine Tonne Ausgangsmaterial, die in der Tiefpreisphase des vergangenen Jahres noch mit 980 Euro zu Buche schlug, koste jetzt bis zu 2300 Euro. Sofern sie überhaupt erhältlich sei, sagt Neumann. Trotz Nachfragerekord könne er unter diesen Umständen nur hoffen, in diesem Geschäftsjahr mit einem kleinen Gewinn oder einer schwarzen Null herauszukommen.

Auch Paul Heinz Bruder, der den in Fürth ansässigen Spielwarenhersteller Bruder in dritter Generation führt, bezeichnet die Lage als „sehr angespannt“. Als die globale Entwicklung absehbar geworden sei, habe er trotz der hohen Preise Silos und Lager gefüllt, um so gut wie möglich für die Hochsaison gewappnet zu sein. Lieber, so erklärt er, greife man jetzt tiefer in die Tasche, als die Kunden im Weihnachtsgeschäft nicht bedienen zu können. „Wenn wir nicht liefern könnten, wäre das für die Bilanz noch schlechter“, so Bruder.

Holz, Computerchips, Stahl: Derzeit fehlt es überall


Rohstoffknappheit beherrscht derzeit aber nicht nur die Kunststoffbranche. Beispiel Holz: Nachdem als Folge von Dürre, Borkenkäferbefall und Stürmen Unmengen von Schadholz den Markt geflutet und den Preis gedrückt hatte, fehlt den Sägewerken nun aufgrund rasant gestiegener Nachfrage aus In- und Ausland das Holz. Verschärft wird die Situation, weil eine gerade erst greifende Vorschrift des Bundeslandwirtschaftsministeriums prompt von der Realität überholt wurde.



Demnach dürfen Waldbesitzer und Forstbetriebe im laufenden Wirtschaftsjahr nur noch maximal 85 Prozent der durchschnittlichen Erntemenge der Jahre 2013 bis 2017 Fichtenholz schlagen. Was den Preisverfall stoppen sollte, befeuert nun den Mangel: Massenhaft Bauprojekte geraten ins Stocken – und Bayerns Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger fürchtet gar einen drohenden Mangel an Pizzakartons.

Andere Branche, gleiche Sorgen: Auch weil die Chip-Industrie in der Pandemie von in Schnappatmung eingeführten Homeoffice-Lösungen und der Nachfrage nach Unterhaltungselektronik von in ihr Zuhause verbannter erwachsener wie halbwüchsiger Menschen überrannt wurde, kommt die Halbleiter-Industrie mit der Lieferung nicht hinterher.

Die winzigen Silizium-Plättchen haben ihren Auftritt nicht nur in Computer und Spielkonsole, sondern auch in Waschmaschine, Toaster oder Auto. Daimler, Volkswagen, Audi und Toyota schicken Mitarbeiter als Reaktion in Kurzarbeit. Trotz gestiegenen Nachfrage. Mitbewerber Peugeot machte der Halbleiter-Mangel hingegen kreativ: Statt eines digitalen Tachos, der ohne Halbleiter nicht funktioniert, wird in den Kompaktwagen 308 derzeit das alte analoge Zeiger-Tachometer eingebaut. Das überbrückt das Defizit – und spart dem Käufer immerhin 400 Euro.

Laut eingangs erwähnter Ifo-Umfrage gaben branchenübergreifend 45 Prozent aller befragten Unternehmen an, derzeit unter der Knappheit an Vorprodukten zu leiden. So viel wie seit der Wiedervereinigung nicht mehr. Dabei hatte Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier nach den anfänglichen Eruptionen durch die Pandemie zuletzt noch betont, dass die Lieferketten in der zweiten und dritten Welle intakt seinen. Klaus Wohlrabe, der Ifo-Umfragen leitet, sieht das anders: „Dieser neue Flaschenhals könnte die Erholung der Industrie gefährden.“

"Dass die globalen Lieferketten anfällig sind, wussten wir. Wie sehr, zeigt sich jetzt."

Auch Professor Bernhard Herz, Inhaber des Lehrstuhls für internationale Wirtschaft an der Universität Bayreuth, beobachtet die Entwicklung mit Sorge: „Dass die globalen Lieferketten anfällig sind wussten wir. Wie sehr, zeigt sich jetzt.“ Daher sei nun der geeignete Zeitpunkt, das Prinzip zu überdenken. Man müsse prüfen, welche strategisch wichtigen Produkte etwa im Bereich Pharma vor Ort gebraucht würden. Oft sei eine Verlagerung aber schwer, da, wie beim Plastik, teils tausend Arbeitsschritte aufeinanderfolgten, zudem sei man oft abhängig von ausländischen Rohstoffvorkommen.

Daher hofft Herz, dass Firmen sich aufgrund der nun gemachten Erfahrungen etwa bei der Auswahl ihrer Zulieferer breiter aufstellen. Um im Falle des Falles Alternativen zu haben. Freilich sei das teurer, da man in den Preisverhandlungen seine Machtposition in Teilen aufgeben müsse, wenn man kein Großabnehmer mehr sei. „Das geht letztendlich nur, wenn man die Preise auf den Endkunden umlegt.“ Er mache sich aber keine Illusionen: „Das wird keine fünf Jahre anhalten.“ Dann werde das System aus Psychologie (es wird schon nicht mehr so arg kommen) und Konkurrenzdruck (die Mitbewerber bieten wieder billiger an) dazu führen, dass aus Kostengründen wieder auf wenige Lieferanten gesetzt wird. Mit besagten Risiken.



Etwas optimistischer ist Viola Wohlgemuth, Expertin für Wirtschaftskreisläufe bei Greenpeace. Gerade im Plastikbereich zeige sich gerade, welche immensen Ressourcen in Deutschland ungenutzt bleiben. Obwohl wir über genug recyclingfähiges Material verfügten, würden wir unseren Müll noch immer nach Asien verschiffen. Von wo es, um die in ihren Augen noch immer zu niedrige Recyclingquote zu erfüllen, auf Kosten der Umwelt zurückimportiert würde. Teils sogar mit völlig unklarem Recyclinganteil, wie jüngst eine Recherche der "SZ" zeigte.

Dass man durch den Druck der Rohstoffkrise nun auch hierzulande vermehrt auf hiesiges Rezyklat zurückgreife, sei dem „Brennglas Corona“ zu verdanken, so Wohlgemuth. „Wir müssen endlich anfangen, unseren Müll als Rohstoff zu sehen. Wenn nicht jetzt, wann dann?“