Der Sündenbock

Warum unser Zorn oft dem Überbringer der schlechten Nachricht gilt

16.5.2021, 10:36 Uhr

Karl Lauterbach musste in der Corona-Krise schon einiges aushalten. © Frederic Kern via www.imago-images.de

Beleidigungen und Verleumdungen, Drohungen und Menschen, die in einschlägigen Internet-Foren unverhohlen zu seiner Erschießung aufrufen. Karl Lauterbach musste in der Corona-Krise schon einiges aushalten, unter anderem hatten vor einigen Wochen unbekannte Täter das Auto des SPD-Gesundheitspolitikers mit Farbe beschmiert. Die Angriffe gegen den ebenso unermüdlichen wie omnipräsenten Warner vor zu frühen Lockerungen beschäftigen mittlerweile eine ganze Reihe von Ermittlern und Staatsanwälten.


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"Der Hass, der derzeit auf mich einprasselt, stellt alles in den Schatten, was ich bisher erlebt habe", sagte Lauterbach unlängst in einem Interview. Er halte als langjähriger Politiker so einiges aus, doch diese neue Dimension der verbalen Brutalität verstöre ihn wirklich.

Gesicht der Pandemie

Der promovierte Mediziner ist bekanntlich nicht der einzige Fachmann, der mit seinen Mahnungen und Forderungen polarisiert. Dabei hat er, ähnlich wie Virologe Christian Drosten oder RKI-Präsident Lothar Wieler, keinerlei Entscheidungsbefugnisse. Von vielen Menschen wird er dennoch als eines der Gesichter dieser Pandemie wahrgenommen, als einer der Schuldigen dafür, dass wir uns mit Homeschooling, geschlossenen Geschäften und FFP2-Masken herumärgern müssen und zeitweise nach 21 Uhr nicht mehr auf die Straße gehen durften.

Und dafür müssen die scheinbar Schuldigen den Kopf hinhalten, denn schlechte Nachrichten machen schlechte Laune und lassen auch den Boten häufig schlecht aussehen. Das belegt unter anderem eine Studie der Harvard Business School, bei der sich die Probanden vorstellen mussten, wie sie auf das Ergebnis einer hautärztlichen Untersuchung reagieren. Bei einem schlechten Ergebnis (Hautkrebs) wurde der zuständige Arzt durchweg als unsympathischer eingestuft als bei einem guten Ergebnis (kein Hautkrebs) – und dabei spielte es keine Rolle, wie feinfühlig und empathisch er bei der Mitteilung der schlimmen Neuigkeit agierte.

Suche nach dem Sündenbock

"Töte nicht den Boten", mahnte einst der griechische Dichter Sophokles, doch in der Menschheitsgeschichte, der Mythologie und der Literatur gibt es zahlreiche Beispiele dafür, dass die Überbringer der schlechten Botschaft oft selbst für das Unglück verantwortlich gemacht wurden und dafür büßen mussten. Als einer der ersten übte sich wohl Apollon, der Gott des Lichts, der Künste und unter anderem auch der Weissagung, in dieser Praxis. Als er sich in die schöne Koronis verliebte und sie schwängerte, entsandte er einen weißen Raben zu deren Schutz. Als dieser ihm meldete, dass ihn die Geliebte mit einem Sterblichen betrogen hatte, bestrafte er den Vogel. Das Gefieder des Raben wurde schwarz, er konnte nur noch krächzen statt singen und war fortan dazu verdammt, bevorstehendes Unheil anzuzeigen.

Auch der Seherin Kassandra war es schlecht bekommen, dass sie Apollon verärgert hatte. Als sie dessen Verführungsversuche zurückwies, wurde sie verflucht, dass niemand mehr ihre Weissagungen glauben werde. So warnte Kassandra im Trojanischen Krieg vergeblich vor der Hinterlist der Griechen, wurde bei der Eroberung Trojas vergewaltigt und später von der untreuen Klytämnestra erdolcht, weil sie deren Ehebruch und die Ermordung des gehörnten Gatten vorhergesagt hatte.

In der Bibel sind ebenfalls viele Beispiele von getöteten oder gequälten Sündenböcken zu finden, etwa im Zweiten Buch Samuel, als der spätere König David vom Tod König Sauls in der Schlacht am Berg Gilboa erfuhr. Kurzerhand ließ er den Berichtenden erschlagen.

Im Buch Levitikus wiederum stößt man auf den Ursprung des inzwischen in unserer Alltagssprache verwurzelten Begriffs des Sündenbocks. Zum Versöhnungsfest, dem höchsten jüdischen Feiertag, wurden zwei Ziegenböcke ausgewählt, und einer wurde zum Zeichen der Sühne geschlachtet. Der andere wurde symbolisch mit den Sünden des Volkes Israels beladen und im wahrsten Sinne des Wortes in die Wüste geschickt.



Die Suche nach einem Sündenbock wurde stets auch bei Seuchen praktiziert. Wenn viele Menschen durch eine neue, unbekannte Erkrankung dahingerafft wurden, nahm man an, dass Götter oder Geister erzürnt seien. Quacksalberei und Aberglaube blühten, und in die Verfolgung und Bestrafung der vermeintlichen Verantwortlichen wurde mehr Energie gesteckt als in die Ursachenforschung.

Seit der Bronzezeit hat sich nicht viel geändert

"Man schiebt irgendeiner Minderheit die Schuld zu, um ein Ventil für seine Aggressionen zu schaffen. An diesem Reflex hat sich seit der Bronzezeit nicht viel geändert", erklärt der Erlanger Medizinhistoriker Karl-Heinz Leven. Und oft sei die Suche nach Sündenböcken mit einer diffusen Angst vor dem "Fremden" verbunden gewesen.

Zum Beispiel im alten Rom, als der konservative Staatsmann Marcus Porcius Cato der Ältere die in der Stadt praktizierenden Ärzte aus Griechenland unter Generalverdacht stellte. "Die Griechen waren damals absolut führend in der Medizin, aber Cato behauptete immer wieder, dass die Ärzte sich verschworen hätten und das römische Volk vergiften wollten", sagt Leven.

Solche Vergiftungsvorwürfe spielten bei späteren Epidemien ebenfalls regelmäßig eine Rolle, etwa als die Cholera in Europa wütete und in vielen Regionen Apotheker als Giftmischer beschuldigt und gelyncht wurden. Und in Mailand wurden im 16. Jahrhundert vermeintliche "Pestsalber" gefoltert und hingerichtet, weil sie angeblich die Mauern mit giftigen Substanzen beschmiert und auf diese Weise den Schwarzen Tod in die Stadt gebracht hatten.

Der Sündenbock schlechthin waren jedoch die europäischen Juden: Ihnen wurde während der Pest-Epidemien ab 1347 vorgeworfen, die Brunnen vergiftet zu haben. Diese mörderische Beschuldigung ging aus von verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen. Gepaart mit religiösem Fanatismus ging es auch darum, die begüterten Juden auszuplündern und zu beseitigen. Zahlreiche jüdische Gemeinden wurden ausgelöscht.

"Viele Menschen wollen einfache Ursachen und Lösungen. Von den komplexen Mechanismen einer Pandemie sind sie überfordert und suchen deshalb nach irgendeinem Schuldigen – auch heute noch", weiß Leven. Und manche Politiker versuchen in der Krise, Schuld zu verteilen, anstatt sachlich aufzuklären und nüchtern zu handeln.

Chronischer Stresszustand

Die zum Teil absurden Reaktionen auf die Pandemie sind auch der Tatsache geschuldet, dass das menschliche Gehirn unzureichend gegen eine zu hohe Zahl von negativen Informationen gewappnet ist. "In der Steinzeit war es wichtig, dass uns keine schlechte Nachricht entgeht – schließlich konnte eine verpasste Warnung vor dem Säbelzahntiger das Leben kosten. Die jetzige Informationsflut hat diese Vorliebe fürs Negative aber in die Perversion getrieben", sagt die Neurowissenschaftlerin Maren Urner, die für eine gewisse "Medienhygiene" plädiert.

Zu dieser Hygiene zählt für sie auch, dass man nicht 24 Stunden am Tag online sein sollte. Der ständige Zugriff auf Informationen habe dazu geführt, dass sich Gehirn und Körper nicht mehr von den schlechten Nachrichten erholen können und in einen chronischen Stresszustand versetzt werden.

Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft wiederum sollten schon aus eigenem Interesse möglichst professionell und rational mit schlechten Nachrichten umgehen. Bei vielen Staatskrisen, militärischen Desastern und Firmenpleiten spielte auch der Umstand eine Rolle, dass manche Untergebenen Hiobsbotschaften zeitlich verzögert und oft geschönt kommunizierten, weil sie den Zorn ihrer Vorgesetzten fürchteten. Da hatten sich die vorangegangenen "Hinrichtungen" der Boten im Nachhinein gerächt.