Ein Jahr nach Terror-Anschlag: Merkel trifft Angehörige

19.12.2017, 07:22 Uhr

An dem Treffen mit der Bundeskanzlerin hatten am Montagnachmittag etwa 80 Opfer und Angehörige teilgenommen. © Michael Kappeler/dpa

Man sollte meinen, nach zwölf Jahren im Amt der Bundeskanzlerin sei Angela Merkel nichts mehr fremd. Sie hat mit schwierigen Staats- und Regierungschefs (wie Wladimir Putin, Silvio Berlusconi und Donald Trump) verhandelt, ganze Nächte in internationalen Konferenzen zugebracht und musste bei heiklen Staatsakten und Trauerfeiern Reden halten. Doch trotz alledem dürfte der Termin am Montagnachmittag im Kanzleramt einer gewesen sein, vor dem sie einen gewissen Respekt hatte. Oder anders gesagt: vor dem sie aufgeregt war. Denn die Gäste hatten schon vorher wissen lassen, wie enttäuscht sie von Angela Merkel sind.

Es waren die Angehörigen der zwölf Menschen, die beim Attentat auf den Berliner Weihnachtsmarkt ermordet worden waren. Von einem aus Tunesien stammenden, als Asylbewerber nach Deutschland eingereisten Terroristen. Die Einladung ins Kanzleramt, fast auf den Tag genau ein Jahr nach dem Anschlag mit einem gekaperten Lkw, war tatsächlich die erste Begegnung der Regierungschefin mit den Hinterbliebenen.

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Dass diese lange Wartezeit falsch war, haben inzwischen viele angemerkt. Der Sozialdemokrat Kurt Beck, als Ex-Ministerpräsident ein Mann mit langer politischer Verantwortung, kritisierte es ganz deutlich. Er war vom Kabinett zum Opferbeauftragten ernannt worden, nachdem bereits einiges schiefgelaufen war. Unter anderem verwies Beck auf Frankreich, wo der Präsident in solchen Fällen stets selbst in Kontakt mit den Angehörigen trete und auch einen Staatsakt anordne.

Auffallende Hektik

Aber auch Angela Merkel hat Versäumnisse zugegeben, wenn auch nur indirekt. Ihre auffallende Hektik zum Jahrestag nach Monaten der Untätigkeit zeigte das am deutlichsten. Plötzlich schaute sie auf dem Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz vorbei und sprach mit Budenbesitzern, dann folgte am Montag das Gespräch mit den Hinterbliebenen und heute ist sie schon wieder in derselben Sache unterwegs, wenn sie die Gedenkfeier am Tatort besucht. "Ich weiß, dass einige sich ein solches Treffen früher gewünscht hätten", gab die Kanzlerin zu – und schob noch hinterher, ihr sei die Begegnung "sehr wichtig". Als dann auch noch Regierungssprecher Steffen Seibert klarstellte, die Einladung zum Gespräch sei schon vor einem kritischen Brief der Angehörigen erfolgt, war erst recht klar: Da fühlt sich jemand unter erheblichem Rechtfertigungsdruck.

In seltener Deutlichkeit hatten die Hinterbliebenen aller zwölf Opfer ihr Missfallen bekundet. Man müsse "zur Kenntnis nehmen, Frau Bundeskanzlerin", hieß es in dem Schreiben, "dass Sie uns auch fast ein Jahr nach dem Anschlag weder persönlich noch schriftlich kondoliert haben". Und weiter: "Frau Bundeskanzlerin, der Anschlag am Breitscheidplatz ist auch eine tragische Folge der politischen Untätigkeit Ihrer Bundesregierung." Dieses Staatsversagen im Zusammenhang mit dem betrügerischen (mehrere Identitäten), hoch kriminellen, längst zur Abschiebung anstehenden und von den Behörden sogar noch überwachten Anis Amri ist längst unumstritten und war bereits Gegenstand mehrerer Untersuchungsausschüsse.

Genügend Zeit

Warum war Angela Merkel seit Dezember 2016 so wenig einfühlsam mit den Angehörigen? Der Verweis darauf, dass sich ja immerhin Bundespräsident und Innenminister mit ihnen getroffen hätten, kann es alleine nicht sein. Es wäre genügend Zeit auch für einen Termin mit der Kanzlerin gewesen – oder wenigstens für einen persönlichen Brief. War es die Scheu einer Politikerin, die weltweit als die Flüchtlingskanzlerin gefeiert und kritisiert wird?

Dass sie bei emotional aufgeladenen Begegnungen nicht immer eine gute Figur macht, ist bekannt. Das weinende Flüchtlingsmädchen Reem (bei einer Fernsehrunde im Sommer 2015) blieb in Erinnerung – und wird von manchen als ein Faktor für Merkels Entscheidung zur Grenzöffnung Monate später genannt. Oder war für die Hinterbliebenen einfach kein Platz im Terminkalender, weil es 2017 mit internationalen Krisen, Wahlkampf und Koalitionsfindung so hektisch zuging? Aus ihren jetzigen Reaktionen ist zu schließen, dass sich die Kanzlerin in einer ähnlichen Situation nicht noch einmal so viel Zeit ließe.

Immerhin: Die Angehörigen folgten der Einladung ins Kanzleramt. Merkel räumte Fehler bei der Betreuung der Hinterbliebenen ein – von der Zeit kurz nach dem Attentat bis zur späteren finanziellen Entschädigung. Für 2018 kündigte die Kanzlerin ein Folgetreffen an, bei dem berichtet werden soll, was die Bundesregierung bis dahin an notwendigen Änderungen umgesetzt habe.